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Interview mit dem Zeitzeugen Kurt Wafner
Kurt Wafner ist Jahrgang 1918. Schon früh kam er über sein Elternhaus mit
anarchistischem Gedankengut in Kontakt. Er wurde mit 14 Jahren Mitglied in einer
der FAUD nahestehenden libertären Jugendgruppe, der freien Arbeiterjugend. Nach
der Machtergreifung organisierte er einen Schülerstreik mit und wurde der Schule
verwiesen, so daß er nicht in der Lage war, seinen Wünschen gemäß Ingenieur zu
werden.
1938 wurde der überzeugte Pazifist zum Arbeits- und später Wehrdienst
einberufen. Nachdem er mit viel Glück durch den Krieg gekommen war, lebte er als
Publizist und Journalist in Ostberlin.
Das Interview in dieser Ausgabe beschäftigt sich mit den Ereignissen in der
Spätzeit der Weimarer Republik und dem Leben und Überleben unter der
Nazidiktatur.
In der nächsten direkten aktion berichtet Kurt Wafner dann über seine Zeit als
Soldat der deutschen Wehrmacht.
Interview mit Kurt Wafner
Tanz mit dem Teufel
M & M
? Wie bist du zu der anarchosyndikalistischen Bewegung gekommen?
K.W. Ich bin über meinen Onkel Bernhard mit Anarchisten und anarchistischer
Literatur in Berührung gekommen. Ernst Friedrichs Pazifismus hat mich stark
beeinflußt und auch Schriftsteller wie Traven, Zola, Gorkij..., das waren meine
Vorbilder. Mit 13 Jahren bin ich dann zum ersten Mal zu einem Treffen der
Anarchistischen Vereinigung Weißensee mitgegangen.
? Was war das für eine Gruppe?
K.W. Die anarchistische Vereinigung gab es in verschiedenen Berliner Bezirken.
Viele Genossen waren auch gleichzeitig in der FAUD organisiert. Die Gruppe in
Weißensee bestand etwa aus 25 – 30 Personen. Die Männer brachten dann ihre
Frauen mit, es war damals nicht so üblich wie heute, daß die Frauen
festintegrierte Gruppenmitglieder waren, es gab da sehr verschiedene
Vorstellungen.
? Aus was für Menschen bestand die Gruppe?
K.W. Die meisten waren sehr unterschiedliche Charaktere. Ich erinnere mich an
einen Genossen, wir nannten ihn Fluner, der konsequenter Vegetarier war, mit
langen Haaren, Bart bis zur Brust... . Es gab auch recht bürgerliche Genossen
mit Schlips und Kragen und so.
Was ich jetzt gesagt habe, trifft auch auf die FAUD zu, es gab sehr
unterschiedliche Lebensweisen und Charaktere. Nicht so wie bei den Kommunisten
mit ihrem proletarischen Gehabe, bei den Anarchisten gab es das auch, aber eben
auch Andere.
? Gab es Konflikte zwischen Proleten und "Intellektuellen"?
K.W. Nein, Spannungen gab es eher nach den verschiedenen Weltanschauungen. Ob
man Waffen für den politischen Kampf benutzen sollte oder nicht. Starke
Spannungen gab es auch um Erich Mühsam. Von ihm war aus der Zeit der Münchener
Räterepublik bekannt, daß er durchaus bereit war, mit Kommunisten
zusammenzuarbeiten, wenn es zweckdienlich erschien. Andere, besonders der
spätere Verräter Herbert Wehner, waren entschieden dagegen.
? Wie sah die politische Arbeit der Anarchistischen Vereinigung aus?
K.W. Es wurden viele kulturelle Dinge unternommen, um das Weltbild des Menschen
zu vertiefen, z.B. Theaterbesuche, Literaturlesungen, Museumsbesuche. Aber auch
politische Aktionen, wie Plakatieren, anarchistische Vorträge zu Theorie und
Tagespolitik und Hofkolonnen, die bei den Menschen für den Wahlboykott und
andere Ziele warben. Es gab auch Gedenkfeiern zu Sacco und Vancetti oder dem
Haymarket... .
? Gab es eine politische Verfolgung von Staatsseite?
K.W. Die anarchistische Vereinigung oder die FAUD waren in der Weimarer Republik
nicht verboten, wurden aber von der Polizei seit Ende der zwanziger Jahre
kritisch verfolgt. Plakatieren war gefährlich und des öfteren wurden Redner oder
Hofkolonnen verhaftet, weil sie zu radikal agitiert hatten. Auch die Zeitung der
FAUD, der "Syndikalist", wurde öfters verboten.
?Du bist dann in eine andere Gruppe eingetreten?
K.W. Ja, zusätzlich, denn die Leute in der anarchistischen Vereinigung waren
alle viel älter als ich. Ich war 1932 erst 14 Jahre alt. Ich war ganz froh, daß
mich nach einem Vortrag zwei junge Leute fragten, ob ich nicht Interesse hätte,
zur "Freien Arbeiter Jugend" (FAJ) zu kommen. Freie Arbeiterjugend, schwarzer
Wimpel mit roter Schrift, ich war begeistert. Die FAJ war aus der SAJD
hervorgegangen und erhielt von der FAUD jede erdenkliche Unterstützung. Die
Gruppe bestand aus circa 25 Personen, wir trafen uns einmal in der Woche in
einem Jugendheim, und am Wochenende gingen wir auf Fahrt. Das war einer der
wichtigsten Bestandteile unseres Gruppenlebens, auf Fahrt zu gehen und all das
zu machen, was man aus freiheitlichem Drang heraus tun wollte. Dann gab es auch
Vorträge von Erich Mühsam zum Beispiel, was für mich eine sehr wichtige
Begegnung war. Er sprach über die Räterepublik, freie Liebe und so fort. Er
sprach immer sehr leidenschaftlich und es war schon ein Vergnügen, ihm bloß
zuzuhören.
! Heute wirft man ihm ja oft Sexismus vor!
K.W. Das zweite Mal, als ich ihn sprechen hörte, sprach er über die freie Liebe
und Sexualität, und das war für mich sehr einprägsam, daß er sehr viel
Hochachtung vor der Frau forderte von einem Mann, daß er also das genaue
Gegenteil von Sexismus meinte.
Er hatte ja auch viele sexuelle Kontakte, habt ihr seine Tagebücher gelesen, das
war mehr, als damals bekannt war.
Ich erinnere mich, gerade die Genossinnen damals fanden das nicht besonders gut,
freie Liebe ja, aber man darf' s nicht übertreiben. Es gab da ja verschiedene
Stufen der Sexualreformen und der freien Liebe. Freie Liebe hieß zunächst nur
eine partnerschaftliche Beziehung zu jemandem eingehen ohne staatliche oder
kirchliche Einmischung. Eine andere Meinung sagte, daß man sexuelle Bindungen
jederzeit wechseln sollte, könnte und wollte, je nachdem.
Mühsams Standpunkt war: Wenn man mit einem Partner glücklich ist, sollte man mit
ihm zusammensein. Der Mensch war für ihn aber polygam veranlagt, Männer mehr als
Frauen, dann sollte man sich keine Beschränkungen auferlegen. Daran muß eine
bestehende Partnerschaft nicht unbedingt kaputtgehen, wenn jeder den anderen
akzeptiert und jeder tun kann, was sein Leben verschönt, das sei wirkliche
Freiheit. Er meinte, jeder Zwang sei verderblich und wenn sich zwei Menschen
ganz doll lieben, dann bleiben sie auch zusammen und wenden sich nicht anderen
zu. Er hat immer sehr stark gegen die bürgerliche Moral, die Kirche und den
Staat gewettert.
Es muß auch gesagt werden, daß Erich Mühsam sehr stark gegen den Feminismus war,
er meinte, daß sich Frauen nicht im Arbeitsprozeß aufreiben sollten die
Kindererziehung sei eine schöne und wichtige Aufgabe.
Würde man heute Frauen sagen, was Mühsam dachte, würden sie sagen: "Ich will
doch nicht am Herd stehen und Kinder kriegen, ich will auch was aus mir machen!"
! Heute hat man oft den Eindruck, daß die FAUD damals sehr viel straffer
organisiert und auch militanter war, als es die FAU heute ist!
K.W. Also grundsätzlich muß gesagt werden, daß innerhalb der anarchistischen
Bewegung eine Vielzahl von Meinungen herrschte. Es hat auch mal einer gesagt,
jeder Anarchist habe seine eigene Meinung, das war natürlich überspitzt gesagt.
Aber damals gab es schon verschiedene Gruppen wie der pazifistische Kreis um
Ernst Friedrich oder aber Anarchosyndikalisten wie Rudolf Rocker oder Erich
Mühsam, die sich nicht Pazifisten, sondern Antimilitaristen nannten. Sie
meinten, daß man eine revolutionäre Erhebung auch mit Waffengewalt durchführen
müsse. Die FAUD war sich in dieser Frage nicht einig, auch in unserer
Jugendgruppe gab es mitunter Diskussionen.
? Wurde auch in der Weimarer Zeit gegen die Nazis gearbeitet, gab es da
Zusammenstöße oder lief es mehr auf Propagandaebene ?
K.W. Nein, es gab auch schon Zusammenstöße. Hauptsächlich fanden die
Auseinandersetzungen am Ende der Weimarer Republik allerdings zwischen
Kommunisten und SA- Trupps statt.
Also, direkte Zusammenstöße mit Anarchisten habe ich nicht miterlebt, viele
Genossen der FAUD meinten ja auch, daß unser Kampfmittel der Streik und nicht
der Gummiknüppel sei. Natürlich waren bei 1. Mai- Demonstrationen, als es
Prügeleien zwischen Nazis und den anderen gab, wo dann die Polizei mit
Gummiknüppel dazwischenging, auch Anarchisten beteiligt. Es gab auch die
"Schwarzen Scharen"; Anarchisten, die sich uniformierten, was ja eigentlich
unüblich war, mit Koppel, Schulterriemen und schwarzem Hemd. Allerdings waren
sie mehr im Rheinland und Westfalen verbreitet, als Schutztruppe gegen Nazis und
SA.
Ich kann mich erinnern, daß Erich Mühsam im November '32 schon sehr stark über
die drohende Gefahr des Nationalsozialismus gewettert hat, als er wieder einmal
in unserer Gruppe war. Es war also damals schon sehr deutlich spürbar, daß bald
ein Schwung nach rechts stattfindet.
?Es wird oft gesagt, daß die Nazi- Bewegung schon langsam wieder am
Abschwellen war, als sie an die Macht gekommen ist, und andere Gruppen, z.B. das
Großkapital, Hitler erst zur Macht verholfen haben. War das damals wirklich so
spürbar, oder kam der Gedanke erst im nachhinein ?
K.W. Nein, das war eigentlich nicht so spürbar. Wir haben uns damals diese
Fragen auch nicht so gestellt. Was uns damals schon abschreckte, waren die
Theorien Hitlers und der Nazis, die auch schon bekannt waren. In "Mein Kampf"
hat er ja auch ganz klar dargelegt, wie er sich eine zukünftige Gesellschaft
vorstellt, nämlich ohne Juden, daß die Deutschen ein "Volk ohne Raum" seien und
den Osten mit wenig Volk, aber mehr Raum urbar machen und kolonisieren sollten.
Die Nazis haben doch ein wenig den Nerv der Deutschen für sich vereinnahmt. Also
diesen schon immer vorhandenen Antisemitismus, das Nationalgefühl, den
Militarismus, die Überheblichkeit und den Hang zum Untertanengeist. Auf der
einen Seite nach untern treten und nach oben bücken.
Viele Freunde, Bekannte, auch Genossen oder Leute aus der KPD, die vorher noch
gegen Hitler eingestellt waren, waren nach der Machtübernahme plötzlich ganz
scheu, wenn man ihnen begegnete. Wenn man sie darauf angesprochen hat, sagten
sie dann: "Na, ja, nun wollen wir erst mal warten, so schlimm wie immer
geschildert, scheint Hitler ja nicht zu sein, und die Arbeitslosigkeit wird
beseitigt, und es ist sauber und mit den Juden, das wird sich wieder geben,
usw."
Uns hat dann sehr verwundert, daß plötzlich Hakenkreuzfahnen aus Fenstern
hingen, wo früher rote hingen.
? Wieviel Spielraum hatte man eigentlich nach der Machtübernahme, war das
sofort spürbar oder konnte man noch einige Wochen oder Monate halbwegs ungestört
weiterarbeiten?
K.W. Man konnte noch ein paar Wochen weiterarbeiten, aber es war natürlich
spürbar, daß irgendetwas kommen müsse. Nachdem uns in unserem Treffpunkt, dem
Jugendheim, gekündigt wurde, haben wir uns zuerst einmal in privaten Wohnungen
weitergetroffen, auch in unserer Wohnung. Ich habe die Karl- Marx- Schule
besucht, eine Reformschule, und wollte dort mein Abitur machen. Aber unser
sozialdemokratischer und jüdischer Direktor wurde abgesetzt und ich nahm an
einem Schülerstreik teil und wurde relegiert.
Nach dem Reichstagsbrand wurden viele Leute, auch Erich Mühsam, die auf der
Liste standen, abgeholt und zum Teil geschlagen. SA- Leute haben Arbeiter aus
ihren Wohnungen geholt, zum Teil ihre früheren Genossen aus dem
Rotfrontkämpferbund, und jetzt waren die einen bei den Nazis. Ein Genosse hatte
einen Prozeß zusammen mit anderen Anarchisten und mußte 2 Jahre ins Emsländer
Moor.
Wir haben uns dann öfter auf Fahrt getroffen, denn in der Natur fühlten wir uns
sicherer. Wir versuchten auch, die Bücher, die in der "Gilde freiheitlicher
Bücherfreunde" lagerten, in Sicherheit zu bringen. Die kamen dann in unseren
Keller. Am 10. Mai sind dann Bücherberge in Flammen aufgegangen, da hatten wir
den richtigen Riecher. Aber zuerst war eine Zusammenkunft noch möglich.
? Wie habt ihr auf die Machtergreifung der Nazis reagiert?
K.W. Unsere Haupttätigkeit in den ersten Monaten bestand darin, Berichte von den
Inhaftierten zu sammeln. Von Erich Mühsam und anderen, und zu überlegen, wie
können wir helfen? Die älteren sammelten Geldspenden und Material, wir jüngeren
riefen dazu auf. Ansonsten haben wir versucht, in unserem Umfeld, in der Schule
oder Werkstatt auf die Nazigreuel hinzuweisen und zu agitieren. Wir wußten von
den Greueln und Schrecken der Nazis schon sehr früh, z.B. Von Zensl Mühsam, die
berichtete, wie schrecklich ihm mitgespielt wurde.
Die Anarchistische Vereinigung Weißensee löste sich Ende 1934 auf, und ich
verlor die meisten Genossen aus den Augen. Viele sind weggezogen oder in die
"innere Emigration" gegangen. Einige beteiligten sich an illegalen Flugblatt-
und Antifa- Aktionen. Einige Berliner Anarcho- Syndikalisten nahmen auch in
Spanien am Kampf gegen den Faschismus teil. Mir persönlich ist nicht bekannt,
daß ein Genosse auf die Seite der Nazis übergelaufen wäre, im Gegensatz zu den
Kommunisten, wo das ja öfter vorgekommen ist.
Ich würde mich aber nicht als Widerstandskämpfer bezeichnen, im Vergleich zu der
Gruppe Baum oder den Geschwistern Scholl vielleicht.
? Was war in der Zeit danach?
K.W. Wir kamen immer noch in unserer Wohnung zusammen, als ein Nazi- Funktionär
in unser Haus einzog. Ich begrüßte den, wie ich es gewohnt war, mit "Guten Tag",
statt mit "Heil Hitler". Der hat mich dann bei der Ortsgruppe angeschwärzt, und
die haben mich dann zusammengedonnert, wie ich denn dazu käme, nicht den
Deutschen Gruß anzuwenden vor so einem hohen Würdenträger und ob man mir das in
der HJ nicht beigebracht hätte. Dann habe ich gesagt, nö, der Hitlerjugend
gehöre ich gar nicht an. "Warum bist denn du deutscher Junge nicht in der HJ?",
haben sie mich dann gefragt, und ich habe dann gemacht, daß ich da wegkomme. Zum
Glück war ich schon zu alt, um noch in die Pflicht- HJ zu müssen.
? Konntet Ihr euch danach noch treffen?
K.W. Wir haben uns danach nur noch auf Fahrt getroffen. Es war zwar nicht gern
gesehen, wenn junge Leute außerhalb der HJ nicht im Gleichschritt die Straße
entlang liefen, aber viele Wirte waren noch nicht auf Parteilinie umgeschwenkt.
Einmal saßen wir in der Kneipe und dann kamen noch ein paar junge Leute in die
Kneipe rein. Jungen und Mädchen, auch so mit der Klampfe in der Hand, einer
hatte sogar noch ein Akkordeon dabei. Dann beschnupperten wir uns erst mal, und
es stellte sich heraus, daß es Leute von der ehemaligen Fichte- Jugend waren.
Fichte war eine Sportorganisation, die von der KPD betreut wurde, da gab es
Wandern, Schwimmen und Tennis und so. Von diesem Moment an schlossen wir uns
zusammen und waren eine gemeinsame Gruppe.
Da es immer gefährlicher wurde, ohne Legitimation auf Wanderschaft zu gehen,
beschlossen wir, in eine legale Organisation einzutreten: Den Verband der
märkischen Wanderer. Das war eine große Organisation von Heimatforschern, die
waren aufgeschlossen gegenüber allen Leuten, die da eintreten wollten, und
bildeten so eine Art Auffangbecken für linke, antifaschistisch orientierte
Gruppen. Wir hatten unseren Ausweis und waren ungefährdet. Dann sind wir noch in
den Heimatbund der kleindeutschen Kleingärtner eingetreten. Da haben wir dann
antifaschistische Arbeit geleistet, wie wir sie verstanden haben.
Dort waren viele jüngere Leute aus der HJ und dem BDM, wir haben mit denen
geredet und versucht, die zu beeinflussen. Wir haben eine Volkstanz- und eine
Laienspielgruppe gegründet. Ich habe mich um das Laienspiel gekümmert, weil das
mit Literatur zu tun hatte, mein Steckenpferd von jeher. Die Nazifunktionäre
haben dann gesagt: "Jawoll, schön, daß du mitmachst, macht' mal, ein richtiger
deutscher Junge." Die kamen dann gleich mit einer Literaturliste, alles
Nazistücke: Blut und Boden, Wehrmacht Wehrpflicht, Volk ohne Raum, rassische
Sauberkeit. Ich habe dann gesagt, zu humorlos, zu viele Personen, langweilig und
anderes. Stattdessen haben wir dann andere "deutsche Stücke" aufgeführt, Gerhard
Hauptmann und Kleist. Für uns war es schon ein großer Erfolg, wenn wir bei einem
großen Abend der Kleingärtner Gedichte von Brecht oder Klabund aufführen
konnten, ohne daß sie jemand erkannt hat, was ja auch gefährlich geworden wäre.
? Wie lange ging das gut?
K.W. Von 1935 – 38. Wir kamen '38 noch zusammen, aber es wurde dann einer nach
dem anderen eingezogen. Es war ja bereits Wehrpflicht und ich erinnere mich, wir
haben dann immer einen Abschiedsabend veranstaltet. Das war sehr traurig, wir
hatten so ein Lied, "Nie, nie wollen wir Waffen tragen, nie ziehen wir in den
Krieg". Das war ziemlich deplaziert, wenn man wußte, der Betreffende wird morgen
mit der Waffe in der Hand über den Exerzierplatz gescheucht. Dann waren wir sehr
wenige und kamen nur noch familiär zusammen. Paul Lerm, der Leiter der
Volkstanzgruppe, war außerdem noch in einer Widerstandsorganisation, den roten
Sportlern, und ist verhaftet worden. Er mußte dann zwei Jahre ins Emsländer
Moor. Ich persönlich kam 1939 in den Arbeitsdienst und die Verbindung existierte
nur noch mit wenigen Leuten.
Wie bist du zur Wehrmacht gekommen?
K.W. Nachdem ich die gleichgeschaltete Schule verlassen mußte (direkte aktion
Nr. 112), schlug ich mich zunächst mit allerlei Gelegenheitsarbeiten durch, da
ich mir nicht vorstellen konnte, meinen Traumberuf, Redakteur oder in einem
Verlag zu arbeiten, unter der herrschenden Herrenmenschen- Ideologie auszuüben.
Einer aus unserer Jugendgruppe brachte mich dann als Physiklaborant in seinem
Betrieb bei Siemens- Plania unter. Ich büffelte Mathematik und bestand die
Aufnahmeprüfung an der Ingenieurschule. Im April 1939 hätte ich anfangen können,
aber da hatte man mich schon in Marsch gesetzt, zum Arbeitsdienst nach Sodargen
an der litauischen Grenze. Auf meine Proteste bekam ich nur zu hören, das halbe
Jahr müssen sie abreißen, danach können sie immer noch studieren. Aber das war
blauer Dunst.
? Wie war das beim Arbeitsdienst?
K.W. An die Schinderei auf der Baustelle konnte man sich gewöhnen, aber die
ständigen, machtlüsternen Versuche der Ausbilder, meine menschliche Würde zu
verletzen, waren schwer zu ertragen. Dazu das Exerzieren, die gebrüllten
Befehle: Auf ! - Hinlegen ! Marsch, Marsch ! Die gemeinsten Beschimpfungen,
Staub, Dreck und die körperlichen Torturen, das alles griff meine körperliche
Substanz an.
Im Sommer 1939 wurde zusätzlich noch eine Ausbildung am Gewehr vorgenommen, hier
sah ich meine Chance. Aufgrund meiner Sehschwäche in Folge einer
Hornhautentzündung wurde ich vom Dienst mit der Waffe befreit.
Wir hörten noch am 1. September 1939 Hitlers Kriegsgeschrei im Radio an und dann
kam der Abmarschbefehl. Wir waren als Baukompanie Soldaten geworden. So
marschierte auch ich nach Polen. Die Vertreibung der Jüdinnen und Juden und die
Mißhandlungen durch die SS- Herrenmenschen haben mich mit Scham und Entsetzen
erfüllt. Aber dann die Untaten der sowjetischen Waffenbrüder, von denen ich eine
mit ansah, Flugzeuge aus dem Arbeiterstaat, die Bomben auf polnische Arbeiter
und Arbeiterinnen abwarfen. Als die Schlacht geschlagen war, traten wir Eroberer
den Heimweg an, mit Marschmusik zog unsere Kompanie im südostpreußischen
Johannisburg ein. Am Straßenrand eine jubelnde Menge. Junge Mädchen umarmten und
küßten uns, steckten uns Sträuße an die Mützen. Da schwoll so manchem Helden der
Kamm, und es war für ihn ein gelungener Auftakt zu späteren Eroberungen,
vielleicht in der sonnigen Krim oder dem eisigen Kaukasus?
? Wie war die Motivation der Soldaten?
K.W. Es gab auch beim Militär keine einheitliche Linie. Die Alternative zum
Militärdienst war '35/ 36 noch Gefängnis, 1939 war das schon viel strenger. Da
gab es schon Todesstrafe oder eine Drangsalierung, der man nicht standhalten
konnte. Dieses Heldentum habe ich persönlich und viele andere nicht an den Tag
gelegt. Meine Devise war, wenn schon Soldat, dann ein schlechter.
Die Motivation der meisten war auch als Soldat deutsch: Wir sind keine Nazis,
Hitler hat Mist gemacht und den Krieg hätte es nicht geben müssen. Aber wenn
schon Krieg, dann wollen wir alle so tun, um zu gewinnen, sonst geht es uns noch
viel schlechter. Dazu kommt der Gehorsam. Man kann drei Gruppen in der Wehrmacht
unterscheiden:
· Überzeugte Nazis aus HJ oder Ordensschulen. Es gab damals "richtige
germanische" Ordensschulen. Die wollten den Krieg für Hitler und das deutsche
Volk gewinnen.
· Die breite Masse der Soldaten, die sagten, wir machen mit, weil wir keine
andere Wahl haben.
· Diejenigen, die von Anfang an versuchten, Widerstand zu leisten. Wie wir mit
kleinen Schritten oder die, die desertierten, und zum Teil zu den Partisanen
übergelaufen sind.
? Wie war Dein Werdegang als Soldat?
K.W. Als ich aus Polen zurückkam, wurde ich zum Wehrdienst gemustert und trotz
meines Augenleidens k.v. (kriegsverwendungsfähig; d.V.) geschrieben. Ich kam zu
einer Artillerieeinheit nach Frankfurt/ Oder. Die Rekrutenausbildung war noch
schärfer als der Drill beim Arbeitsdienst: Exerzierdienst bis zum Umfallen,
systematisches Brechen des Selbstbewußtseins, das stupide Gewehrgriff- Klopfen,
Stechschritt und die mit beinahe wissenschaftlicher Akribie durchgeführte
Einweisung in die Funktion der Geschütze.
Meine Devise war natürlich Distanz halten, zu nichts melden. Nach den
Schießübungen wurde ich erneut zum Augenarzt geschickt, und infolge dessen wurde
der Vermerk k.v. in meinem Soldbuch durch g.v.H. (garnisionsverwendungsfähig
Heimat; d.V.) ersetzt, und ich kam in den Innendienst. Eigentlich hätte es mich
froh stimmen sollen, aber ich wußte, so manch einer meiner Kameraden hätte nur
zu gern eine kleine "Macke" gehabt. Ich glaube, die meisten beneideten uns, aber
die Zackigen ließen uns spüren, daß wir für die "Drückeberger" waren.
März '41 kam ich dann zur Bewachung französischer Kriegsgefangener nach Berlin,
von wo ich in Folge des Überfalls auf die Sowjetunion nach Rußland gelangte. Die
eroberten Ostgebiete galten auch als "Heimat", so daß ich mich nicht erfolgreich
widersetzen konnte.
Auf dem Marsch nach Rußland machte ich die Bekanntschaft von Rudi Kuhn. Wir
lagen auf einer sommerlichen Wiese und unterhielten uns: "Diktaturen schüren den
Krieg", wagte ich zu sagen, man konnte sich ja nie vor Spitzeln sicher sein.
"Kannst Du dir eine Gesellschaft ganz ohne Staat vorstellen", fragte er. Da
wurde ich hellhörig: "Wie Bakunin sie beschrieb, oder Kropotkin...?". Da wurde
er hellhörig: "...oder die anarchistischen Gewerkschaftler der FAUD?" Wir
frischten gemeinsame Erinnerung an Versammlungen und Vorträge auf, und von dem
Moment an haben wir zusammengehalten. Rudi Kuhn war Schneider und in der FAUD
aktiv gewesen.
Auf dem weiteren Vormarsch habe ich dann in einer zerschossenen Bibliothek Arno
Erlecke kennengelernt. Ich stand gerade vor den Regalen und betrachtete die
Bücher, als Arno mit einem Buch von Rosa Luxemburg neben mir stand: "Das sollte
man gelesen haben", sagte er leise. Arno war in der KPD gewesen und seiner
Weltsanschauung treu geblieben, er brachte dann auch den vierten Mann mit.
Willy, war ebenfalls in der KPD gewesen und hatte einige Monate in einem der
ersten Kz' s verbracht. Er war Maurer und hatte sich mit dem Polier, einem Nazi
angelegt. Wir vier sind dann die nächsten zwei Jahre zusammengeblieben.
? Wie wart Ihr eingesetzt, wie habt Ihr als Gruppe zusammengehalten?
K.W. Unsere Einheit war zur Bewachung der russischen Kriegsgefangenen in Minsk
eingesetzt. Rudi und ich hatten Innendienst, aber die anderen beiden waren
direkt zur Bewachung der Gefangenen eingesetzt. Wir haben versucht, uns so
menschlich wie möglich zu verhalten, mal was zuzustecken. Wir haben da auch in
der Gruppe viel darüber diskutiert, wie verhält man sich bei einem
Fluchtversuch. Denn die Mannschaften, denen die Gefangenen entkamen, wurden,
falls diese wieder zurückgebracht wurden, zur Erschießung eingeteilt. Schlimm
war es, als die Partisanen kamen, einmal weil da zur Kampfeinheit ausgesiebt
wurde und andererseits, weil fast täglich Gefangene flohen. Willy hat eine
Gruppe Gefangener entkommen lassen und wurde nun zur Hinrichtung eingeteilt. Das
war für ihn ganz furchtbar, was kann ich bloß tun, hat er gesagt und sich dann
sinnlos betrunken, in der Annahme, dann zurückgestellt zu werden, Aber er ist
von der Feldgendarmerie abgeholt worden, und wir haben ihn nie wieder gesehen.
Über weltanschauliche Fragen haben wir kaum diskutiert, ob Anarchismus oder
Diktatur, das war im Moment ganz unwichtig. Die waren Kommunisten, wir
Anarchisten, wir haben nur gedacht, wie können wir helfen. Ein Mensch, der den
gleichen Feind wie ich hat, ist erst mal mein Partner.
? Wie sind die anderen Landser damit klargekommen, an so einer Erschießung
teilzunehmen?
K.W. Es gab so eine Art stillschweigende Übereinkunft, über diese Dinge nicht zu
sprechen. Man schweigt und verdrängt. Es ist wieder so ein Fall, in der Theorie
ist alles glatt, aber in der Praxis ist die Situation: er oder ich. Ich bin
glücklicherweise in diese Situation nicht gekommen.
Schlimm war es mitanzusehen, wie sich die eigenen Kameraden beim Transport der
Kriegsgefangenen ins Lager mitunter aufgeführt haben. Die Gefangenen kamen am
Güterbahnhof in der eisigen Kälte '41/ 42 an, bis zu -40 Grad Celsius. Viele
waren schon erfroren oder konnten nicht mehr laufen. Die paar, die noch laufen
konnten, mußten 7 Kilometer durch die ganze Stadt. Wer nicht mehr konnte, wurde
sofort per Genickschuß ermordet. Die Straßen waren voller Leichen. Daran waren
auch viele Hilfstruppen beteiligt, Ukrainer, Letten, Weißrussen. Die haben
Hitler zunächst als Befreier von den Bolschewisten gesehen, aber ihren Irrtum
schnell erkannt. Da gab es allerdings auch überzeugte Nazis, die wollten der SS
beweisen, wie "gut" sie sind.
? Wie weit war das Wissen über die Greueltaten in der Armee verbreitet?
K.W. Offiziell durfte nichts verlauten. Es gab auch Briefkontrollen und harte
Strafen. Die meisten Landser haben aber von sich aus geschwiegen, untereinander
und zu Hause, die Familie sollte vom Krieg nichts mitbekommen.
Von Erschießungen und der systematischen Vernichtung der Kriegsgefangenen durch
Kälte, Hunger und Krankheiten wußten alle im Lager und auch an der Front. Da gab
es ganz andere Verbrechen als im Hinterland, die Frontbereinigung zum Beispiel,
bei der die Dörfer verbrannt und die Menschen erschossen wurden. Unsinnig ist
auch der Gedanke, die Wehrmacht sei ein sauberer Haufen, SS und Polizeitruppen
hätten die Verbrechen begangen. Die Gefangenenerschießungen, der Massenmord
durch Hunger und Kälte, das war die Wehrmacht. Die Judenmassaker in der
Zitadelle von Kowno/ Kaunas, in Dünaburg. All das war auch denen bekannt, die
nicht unmittelbar beteiligt waren. Genauso wie jeder, der denken konnte, wußte,
daß es Kz' s gab und die Judenvernichtung.
Unsere Gruppe, wir haben versucht, das Schweigen zu durchbrechen und auch
zuhause von den Verbrechen berichtet.
Es war uns auch wichtig, Kontakt zur russischen Bevölkerung zu bekommen. Ich
hatte dann auch Freundschaften, offiziell war das ja verboten, "Verbrüderung mit
den Eroberten". Aber man konnte das tarnen, man hatte halt ein Mädchen und das
wurde dann stillschweigend akzeptiert. Sexuelle Bedürfnisse waren ja nun mal da
bei den Landsern, und Bordelle gab es nicht genug. Wir jungen Männer, hatten
sowieso das Interesse mit einer Frau zusammenzukommen. Ich hatte im Verlauf
dieser zwei Jahre auch russische Mädchen, und es war mir wichtig, auch Kontakt
zu deren Familien zu bekommen und zu sehen, wie sie leben.
? Wie erklärst Du dir diese Unmenschlichkeit in der deutschen Wehrmacht? Zum
Großteil waren es ja ganz normale Menschen.
K.W. Ich kann mir das nur so erklären, daß bei dem deutschen Volk ein Haß auf
Fremde und Andersartige schon immer vorhanden war. Und dann war natürlich der
Gedanke, wehe, wenn wir den Krieg verlieren, was dann mit uns passiert. Da ist
es besser, jetzt auszurotten, was noch auszurotten geht. Oft wurde mit
Argumentation Wut geweckt, wie, ein Heckenschütze hat einen Soldaten erschossen.
Es gab einen Befehl, für einen deutschen Soldaten 100 Einwohner zu ermorden.
Auch das Bewußtsein, Macht zu haben, war ein wichtiger Faktor in der Wehrmacht.
Ein Argument ist sicher auch, daß der Krieg verroht, wir haben das dann
umgekehrt erlebt, 1945 das Verhalten der Roten Armee in den eroberten Gebieten,
Vergewaltigungen und so weiter.
? Wie lange warst du in Minsk, wie ging es weiter?
K.W. Anfang '43 wurde ich beauftragt, eine Theatergruppe zu organisieren, und
bekam doch noch den ungeliebten Gefreitenwinkel. Seit Winter ' 43 griffen
infolge der sich abzeichnenden militärischen Niederlage die Erschießungen der
Gefangenen immer weiter um sich. Ich unternahm einen erneuten Vorstoß,
untauglich zu werden, und wurde nun schließlich aufgrund meiner Sehschwäche
a.v.H. (arbeitsverwendungsfähig heimat; d.V.) geschrieben.
Der Leiter des Physiklabors bei Siemens- Plania machte sich für mich stark und
ich bekam eine u.k.- Stellung (unabkömmlich; d.V.) in Berlin. Während meines
Aufenthaltes bei der Wehrmachtsentlassungseinheit stand plötzlich Herbert
Teschow vor mir, einer der beiden jungen Männer, die mich 1931 angesprochen
hatten, in die Freie Arbeiterjugend einzutreten.
Er war nun davon bedroht, noch an die Ostfront zu kommen und weihte mich in ein
Vorhaben ein, das über Leben und Tod entscheiden sollte: Der Griff eines
durchgerosteten Wäschekessels brach, und siedendes Wasser verbrühte Herberts
Beine. Noch während er im Krankenhaus lag, wußte er nicht, ob man ihm den Unfall
abnehmen würde, oder ob er wegen Selbstverstümmelung vors Kriegsgericht müßte.
Wir verbrachten noch viele schöne Stunden zusammen.
Das Kriegsende habe ich hier in Berlin, in Hohenschönhausen erlebt. Ich saß im
Keller und wartete auf die Befreier. Ich sage bewußt Befreier. Viele Historiker
und Libertäre fragen, ob man Befreier sagen darf, aber für uns, die vom
Nazireich Geschundenen, war es zu allererst ein Akt der Befreiung.
? Wie hast Du die Vergangenheitsbewältigung wahrgenommen?
K.W. Ich war erschreckt, als ich feststellen mußte, daß viele Naziverbrecher
wieder in Ruhm, Amt und Würde kamen, im Westen vor allem. Im Osten wurde auch
vertuscht. Aber da war man schon näher an der Wahrheit, die führenden Nazis sind
nicht wieder in ihre Sessel gekommen. Die kleinen Mitläufer kamen auch wieder in
die Partei, die sollten sich bewähren.
? Wie hätte die Vergangenheitsbewältigung stattfinden sollen?
K.W. Man hätte radikal mit der Nazivergangenheit aufräumen müssen, man hätte den
Nazis keine Chance geben dürfen, sich wieder so hochzuarbeiten, damit dieser
ganze Neonazismus nicht wieder so entstanden wäre. Man hätte Menschen wie
Filbinger aus dem öffentlichen Bereich ausschalten müssen. Man hätte verhindern
müssen, daß sich in der Bundesrepublik eine Gruppe von Menschen zwar nicht zum
Faschismus bekennt, aber sagt, die Wehrmacht war ein sauberer Haufen.
Aus: "Direkte Aktion", 19. Jg. (1995), Nr. 112/113.
Eine sehr lesenswerte Autobiographie Kurt Wafners ist im Jahre 2001 unter dem
Titel "Ausgeschert aus Reih' und Glied. Mein Leben als Bücherfreund und
Anarchist" beim Verlag Edition AV erschienen.
Weitere Berichte von Kurt Wafner zum Widerstand gegen die NS- Herrschaft
befinden sich in der "Schriftenreihe über den Widerstand in Berlin von 1933 bis
1934", Hrsg.: Informationszentrum Berlin/ Gedenkstätte deutscher Widerstand
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