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Helge Döhring

Fragmente zum Reichsarchiv der FAUD

Inzwischen fragen sich Generationen von Interessierten, wo das Reichsarchiv der Freien Arbeiter-Union Deutschlands (FAUD) sich befindet. Dieses wurde auf dem 18. FAUD-Reichskongress im Jahre 1930 offiziell eingerichtet.[1] Darüber, weshalb das Archiv aufgebaut wurde, was dort gesammelt werden sollte, wer es betreute, und wem es auf welche Weise zur Verfügung stehen sollte, geben die hier dokumentierten Textauszüge Auskunft. Trotz der Tatsache, dass die FAUD-Ortsvereine dazu verpflichtet wurden, Archivalien einzuschicken, war die Beteiligung doch eher schwach.[2] Das lag jedoch nicht speziell am Archiv. Es mangelte genauso an Beitragszahlungen und selbst wichtige interne Fragebögen wurden von etwa der Hälfte der FAUD-Ortsvereinigungen nicht an die Geschäftskommission der FAUD zurückgeschickt. Stets gab es einen festen Mitgliederstamm, um welchen sich vakante Mitgliedschaften gruppierten, beispielsweise Beitragssäumige oder auch neue Gruppen. Das Reichsarchiv dürfte nur vereinzelt beschickt worden sein.[3] Regional wurde es in der Bewegung kaum thematisiert, die Beschickung wurde offenbar so nebenbei getätigt. Dennoch: für so manche Regionalforschung wären die damaligen Materialien umso mehr von Bedeutung, je kleiner die zu untersuchenden Gruppen sind, da es hier oft nur Bruchstücke von Überlieferungen gibt. Wahrscheinlich sind die meisten Materialien aus Leipzig, Berlin und aus dem Rheinland geschickt worden wegen der geographischen Nähe zum Archiv und ihrer generellen Rolle als tragende und zuverlässige Kerngruppen der Organisation. Die Organisation zählte im Jahre 1930 keine 10.000 Mitglieder mehr, 1932 keine 5.000.

Was könnte passiert sein?

Aus anderen Regionen ist bekannt, dass Archivbestände und Bibliotheken versteckt, beispielsweise in Schrebergärten vergraben wurden. Zudem kursieren Gerüchte auf Einmauerungen. Folgen wir den Recherchen von Andreas Graf, so wurde das Archiv zunächst „in zwei Zinkfässer eingelötet und vergraben“.[4] Für diese Informationen verweist er auf die SAPMO-Bestände im Bundesarchiv.[5] So das Archiv dennoch den Nazis in die Hände gefallen sein sollte, ist es am wahrscheinlichsten, dass diese den Bestand vernichteten, wie sie es auch bei einem Teilbestand des Privatarchivs von Rudolf Rocker taten:

„Feststellungsbericht. Am 24.4.1933 wurde von Beamten des Polizeireviers 218 eine Durchsuchung bei dem Schriftsteller Rudolf Rocker, am 25.3.1873 zu Mainz geb. in Berlin-Britz, Rudower-Allee 46 wohnhaft, Schriften hetzerischen Inhalts vorgenommen. Es wurden 45 Kisten mit Broschüren kom. Inhalts beschlagnahmt. Die Kisten wurden zur durchsicht nach dem Polizeipräsidium geschafft. Nach Durchsicht der Bücher und Broschüren wurden die mit kom. Inhalt zur Vernichtung gegeben und 22 Kisten mit Büchern wurden zurückgegeben (…)“[6]

Zu denselben Schluß kommen auch Andreas Graf und Dieter Nelles: „(…) er [Holke] leitete den Aufbau des Reichsarchivs der FAUD, das von den Nationalsozialisten vernichtet wurde.“[7]

Bei Mitgliedern der ehemaligen Berliner Geschäftskommission in Berlin fanden die Polizei nur Mitgliedsbücher, Zeitungen und wenige Broschüren.[8]

Nachforschungen

Innerhalb der FAUD-Nachfolgeorganisation „Föderation freiheitlicher Sozialisten (FFS) existierte es weder, noch war es (nach heutigem Forschungsstand) Thema.[9] Eine weitere Möglichkeit liegt im IISG-Amsterdam, dem Internationalen Institut für Sozialgeschichte, darunter Briefe von Lisbeth Holke,[10] vermutlich der Frau von Artur Holke. Es enthält zahlreiche Nachkriegskorrespondenz zwischen überlebenden aktiven Anarcho-Syndikalisten. Es ist wahrscheinlich, dass dort der Verbleib des Archivs erörtert worden ist, dass sich Hinweise auf den Verbleib finden oder es auch den damaligen GenossInnen als vermisst galt.

Einen Hinweis lieferte der Forscher Knut Bergbauer in „Freies Schaffen“: „Im dem Brief von 1947, den Georg Hepp-Frankfurt an [Thomas] Förg-München geschrieben hat, heißt es: ‚Auch über unsere alten Freunde [Ernst] Rieger und Reinhold Busch haben wir die gleiche Nachricht und werden uns wegen des Reichsarchivs bemühen.’“[11]

Es mag auch die Tatsache von Bedeutung sein, dass der Sitz der illegalen Geschäftskommission von Berlin nach Erfurt verlegt werden sollte, jedoch tatsächlich nach Leipzig überging, wo noch eine relativ große FAUD bestand. Eine Liste mit 40 Mitgliedern der Leipziger FAUD befindet sich im Bundesarchiv.[12] Dort sind vielleicht Adressen zu finden, wohin das Reichsarchiv verlegt worden ist. Die Nachfahren können ausfindig gemacht und befragt werden, besonders Holke. Mit Hilfe von Adressbüchern können auch Wohnungswechsel verfolgt werden.

Zum FAUD-Reichsarchivar sagt ein Polizeiauszug folgendes:

„Holke, Vorn.: Paul Artur, geb. in Leipzig-Eutritzsch am 12.1.1883, wohnhaft in leipzig – C.1, Zentralstr. Nr. 11 IV, verheiratet, kinderlos. Festgenommen am 13.4.1937 und z.Zt. in U-, bzw. Strafhaft. Näheres nicht bekannt. Beruf Installateur. Holke ist als unverbesserlicher Anarchist zu betrachten.“

Dazu lagern im Bundesarchiv Bestände zur illegalen Tätigkeit der Leipziger Anarcho-Syndikalisten, darunter jedoch nur wenig zu Holke:

„Heinrich und Weber gaben beide zu, Gelder für die Schutzhaftgefangenen gezahlt und an Thiede weitergegeben zu haben. Weber war außerdem die Literaturverwahrungsstelle in Leipzig und hat in 3 Fällen das illegale Material für Götze (die letzte Sendung für Thiede) verwahrt, bis dasselbe wieder abgeholt wurde. Holke und Büttner sind beide alte hervorragende Funktionäre der FAUD und haben deren illegale Bestrebungen gewusst und gefördert. Holke hat im Sommer 1935 dem Weber die Anweisung überbracht, die letzte Sendung zu vernichten und Büttner hat den Funktionär der illegalen FAUD aus Berlin in seiner Wohnung anlaufen lassen. Schon jetzt zeigt sich, dass die illegale Arbeit der FAUD sehr straff und auf der Grundlage persönlicher Freundschaften organisiert war. Leipzig stellt in gewisser Hinsicht die Reichsleitung dar.“[13]

Desweiteren kann im Bundesarchiv nach Prozessakten zu Holke geschaut werden.

Neue Spuren?

Es sind zumeist professionelle Antiquariats-Großhändler, die systematisch an Haushaltsauflösungen teilnehmen, und dann die Bestände entsprechend unter die Antiquariate streuen, bis sie dann schließlich für uns sichtbar werden. Spuren aus dem Jahre 2007/08 führen zu einem größeren Bestand aus dem Thüringischen Raum, darunter viele unausgefüllte FAUD-Mitgliederkarten und Zeitungen/Broschüren. Der Bestand, so rekonstruierbar, deutet jedoch nicht auf ein Archiv hin, sondern auf die Bestände einer Provinzial-, oder Kreisarbeitsbörse, einem regionalen Zusammenschluß mehrerer regionaler FAUD-Ortsvereine. In Thüringen/Sachsen bestand eine relativ hohe Anzahl an Gruppen noch bis 1932/33.

Rekonstruktion?

Wir können davon ausgehen, dass das allermeiste Material zur AS-Bewegung in anderer Form, bzw. weiteren Exemplaren überlebt hat. Zu finden ist es in den vielfach erhaltenen Original- und zahlreichen Nachdrucken, Antiquariaten, Bibliotheken und Archiven. Der staatliche Überwachungsapparat funktionierte schon damals vor 1933 hervorragend, da ist sehr viel erhalten geblieben und dokumentiert worden. Dazu kommt, dass die syndikalistische Presse - im Gegensatz zu heute - eine sehr offene war mit unzähligen Angaben von Namen, Adressen und anderem, was das Forscherherz begehrt. Viel private Korrespondenz hat im IISG-Amsterdam überlebt, und es wurden noch viele Interviews mit Zeitzeugen geführt. Dies alles verdichtet sich dann zu einem ansehnlichen Potenzial zur Rekonstruierung der Geschichte, auch ohne FAUD-Reichsarchiv.

Was fehlt?

Anhand von Beschlüssen, Ankündigungen, polizeilichen Ermittlungen oder Werbeanzeigen können Bestände ermittelt werden, die heute nicht mehr vorliegen.

Es gibt jedoch nur wenige Hinweise auf Fundstücke, welche nicht wiederbeschafft werden konnten. Dazu zählen nach unserem Stand beispielsweise die grünen FAUD-Mitgliedsbücher (eines tauchte 2008/09 bei e-bay auf zu einem horrendem Preis, wer hats?). Von den FAUD-Kalendern aus den frühen 1920er Jahren hingegen fehlt jede Spur, genauso, wie von einigen kleinen Regionalzeitungen aus der Bewegung. Aber noch sind nicht alle regionalen Archive systematisch durchgeleuchtet, noch nicht alle Dachböden entrümpelt und noch nicht alle Nachfahren befragt worden. Die weitere Forschung fördert vielleicht noch was zutage.

Fragmentarisches

Protokoll über die Verhandlungen des 18. Kongresses der Freien Arbeiter-Union Deutschlands (AS), 1930:

„Holke begründet folgenden Antrag zum Reichsarchiv:

‚Der Kongreß lenkt die Aufmerksamkeit der Genossen im Reiche auf das Reichsarchiv. Er verpflichtet sämtliche Gruppen und Institutionen zur Einsendung aller Veröffentlichungen nach Möglichkeit in je zwei Exemplaren und mit näheren Angaben über Erscheinungsdatum und eventuelle Auflagenhöhen. Verständliche Erklärungen über die Gründe, die zur Herausgabe veranlassten, sind beizufügen.

Alle erreichbaren gegnerischen Veröffentlichungen, die sich mit dem Ideenkomplex des Syndikalismus und Anarchismus befassen, sind ebenfalls einzusenden. Weiterhin ist einzuschicken alles erreichbare Material der anderen Gewerkschafts- und linken Parteirichtungen. Abschriften der Kataloge der Organisationsbibliotheken sind einzusenden. Den FAUD-Genossen wird anheimgestellt, dasselbe auf ihre Privatbüchereien auszudehnen.

Eigentümerin des Reichsarchivs der FAUD ist die Geschäftskommission. Die Geschäftskommission und die Leitung der Gruppe des Ortes, wo sich das Archiv befindet, üben die Kontrolle aus. Überzähliges Material wird, soweit es von den Einsendern nicht zurückverlangt wird, der sozialwissenschaftlichen Antiquariatsabteilung des ASY-Verlages überwiesen. Gewinne daraus dienen der Finanzierung des Archivs und eventuell der Stützung des Verlages. Die Unkosten des Archivs sind von der Geschäftskommission zu tragen. Die Archivleitung ist verpflichtet, zum Zwecke ernsthafter Studien Material aus den Beständen des Archivs zu verleihen. In diesen Fällen bürgt für das Entliehene die Gruppe, die sich am Wohnort des Entleihers oder diesem am nächsten Befindet.’

Holtke bemerkt dazu, dass Leipzig als Sitz des Archivs bestimmt worden sei. Die Unkosten würden gedeckt. Das Archiv sei eine unabweisbare Notwendigkeit. Wir können mit seiner Hilfe unsere ganze Tätigkeit dokumentarisch belegen. Bis jetzt war die Zusendung aber noch nicht befriedigend. Z.B. sind wir nicht in der Lage, nachzuweisen, was wir für Sacco und Vanzetti getan haben. Das vorliegende Material ist sehr gering, es entspricht bestimmt nicht den tatsächlichen Verhältnissen. Holke erläutert noch die Einzelheiten des Antrags.

Der Antrag wird angenommen mit dem Zusatz, dass der Sitz des Archivs in Leipzig ist, und dass zum Verwalter Arthur Holke bestimmt wird.

Auf eine Anfrage von Orobon wird erklärt, dass das Archiv auch ausländischen Genossen zur Verfügung stehen soll.“

„Der Syndikalist“, Nr. 28/1930:

„Dringend zu beachten ist von allen Gruppen und Institutionen der FAUD (A.-S.) der folgende Beschluß des Kongresses. Als Adresse des Reichsarchivs kommt in Frage: Artur Holke, Leipzig C I, Zentralstrasse 11, IV

Reichsarchiv

Der Kongreß lenkt die Aufmerksamkeit der Genossen im Reiche auf das Reichsarchiv. Er verpflichtet sämtliche Gruppen und Institutionen zur Einsendung aller Veröffentlichungen nach Möglichkeit in je zwei Exemplaren und mit näheren Angaben über Erscheinungsdatum und eventuelle Auflagenhöhen. Verständliche Erklärungen über die Gründe, die zur Herausgabe veranlassten, sind beizufügen. Alle erreichbaren gegnerischen Veröffentlichungen, die sich mit dem Ideenkomplex des Syndikalismus und Anarchismus befassen, sind ebenfalls einzusenden. Weiterhin ist einzuschicken alles erreichbare Material der anderen Gewerkschafts- und linken Parteirichtungen. Abschriften der Kataloge der Organisationsbibliotheken sind einzusenden. Den FAUD-Genossen wird anheimgestellt, dasselbe auf ihre Privatbüchereien auszudehnen. Eigentümerin des Reichsarchivs der FAUD ist die Geschäftskommission. Die Geschäftskommission und die Leitung der Gruppe des Ortes, wo sich das Archiv befindet, üben die Kontrolle aus. Überzähliges Material wird, soweit es von den Einsendern nicht zurückverlangt wird, der sozialwissenschaftlichen Antiquariatsabteilung des ASY-Verlages überwiesen. Gewinne daraus dienen der Finanzierung des Archivs und eventuell der Stützung des Verlages. Die Unkosten des Archivs sind von der Geschäftskommission zu tragen. Die Archivleitung ist verpflichtet, zum Zwecke ernsthafter Studien Material aus den Beständen des Archivs zu verleihen. In diesen Fällen bürgt für das Entliehene die Gruppe, die sich am Wohnort des Entleihers oder diesem am nächsten Befindet. Zum Sitz des Archivs wird Leipzig und zum Verwalter Genosse Holke bestimmt.“

Protokoll der 14. Geschäftskommissionssitzung vom 20. Februar 1931

„Holke beantragt brieflich, von Rauch- Berlin ‚Sozialist’ 1891-99 für 300 Mark zu kaufen: 100 Mark in vier Monatsraten und 200 Mark Literatur werden verlangt. Der Gesamtpreis muss aber auf 200 Mark höchstens gedrückt werden.

Rüdiger begründet den Antrag als sehr wichtig.

Kirch beantragt, das Büro zum Aufkauf zu autorisieren.“

Zur Person und zum Wirken von Arthur Holke (1883-1940 Tod im KZ)

Arthur Holke zählte zu den Vorkriegsanarchisten und gab bis 1913 die Zeitschrift „Der Anarchist“ mit heraus. In der FAUD war er tätig in der Gilde freiheitlicher Bücherfreunde (Leipzig), dazu wichtiger Akteur des FAUD-Verlages,[14] und er leitete ab 1930 das FAUD-Reichsarchiv. Nach einer kurzen Schutzhaftzeit von März bis Mai 1933 wurde er wegen illegaler Tätigkeit im Jahre 1937 erneut verhaftet. 1933 war Holke Beisitzer der illegalen FAUD-Geschäftskommission.[15] Wegen „Vorbereitung zum Hochverrat“ wurde er zu einer vergleichsweise geringen Freiheitsstrafe verurteilt, danach jedoch ins KL Buchenwald eingeliefert, wo er Anfang 1940 den Tod fand.[16]

„Zwei Jahre Gilde in Leipzig

Im April 1928 schlossen sich eine Anzahl Genossen zu einer Ortsgruppe der ‚Gilde freiheitlicher Bücherfreunde’ zusammen, unabhängig von der in Berlin gegründeten Gilde, mit eigenen Satzungen und Marken. Der Berliner Verwaltungs-Apparat war der Sache nicht gewachsen, das Werbematerial unbrauchbar. Die von der Berliner Leitung offerierten 1,65 und 1,95 Mark-Bücher (Warenhausausgabe) waren zur Mitglieder-Werbung nicht geeignet. Wir boten unseren Gildenfreunden neben den besten Werken aus dem Syndikalist-Verlage nur gute Literatur freiheitlicher Autoren. Unsere Gilde wollte mehr sein, denn Büchervermittler. Wir wollten teilnehmen an der Kulturarbeit der Leipziger Arbeiterschaft. Ist doch das Kapitel ‚Kulturarbeit’ keineswegs erhebend! Die Zerrissenheit des Proletariats, verursacht durch die politischen Drahtzieher, läßt es nicht zu großzügigem Wollen kommen. Das von den Zentralgewerkschaften und der Partei unterhaltene Arbeiter-Bildungs-Institut maßt sich auf kulturellem Gebiet eine Monopolstellung an. Besondere Bildungs-Sekretäre bestimmen die Tendenz! Versuche, in Leipzig eine Volksbühne auf breitester Grundlage zu schaffen, die Kulturzentrum sein könnte, mußte an der Engstirnigkeit der sozialdemokratischen Parteihuber scheitern. Eine von der KP aufgezogene Volksbühne konnte nicht leben. Für freiheitliche Elemente, denen der Parteipferch zu eng, gab es keinen Raum zur Betätigung! Diese Kameraden zu sammeln, war Ziel unserer Gruppe. Ende April 1928 traten wir an die Öffentlichkeit. Auftakt dazu war ein Vortrag Rudolf Rockers über ‚Maxim Gorki’. Der Erfolg war vielversprechend. Wohl selten hatte ein Redner eine andächtigere Hörerschaft aller Richtungen gefunden. Die ‚berufenen’ Vertreter der Leipziger Arbeiterschaft trafen Gegenmaßnahmen. Unsere weiteren Veranstaltungen wurden bis auf einige totgeschwiegen! Die SP- und KP-Presse lehnte Redaktionshinweise und Inserate ab. Doch unsere fernere Tätigkeit konnte dadurch nicht unterbunden werden. Im August sprach Erich Mühsam temperamentvoll über das Thema: ‚Künstler und Rebell’. Ein Genosse las aus seinen Werken. Zwei Vorträge Rudolf Rockers über Jack London, Upton Sinclair und B- Traven waren ein Erlebnis! In einer antimilitaristischen Veranstaltung sprach Helmut Rüdiger über ‚Der Krieg und die Literaten“. Bruno Vogel las aus: ‚Es lebe der Krieg!’ und aus dem damals noch ungedruckten ‚Alf’. Die aufwühlende Kunst Franz Masereels vermittelte uns Helmut Rüdiger durch einen Vortrag mit Lichtbildern. Eine Feier, dem Gedenken Gustav Landauers gewidmet, war überfüllt. Rudolf Rocker hielt die Gedenkrede, Lina Carstens rezitierte. An einem andern Abend sprach Helene Stöcker kluge Worte über die Ehe als psychologisches Problem. Am 3. Autoren-Abend las Theodor Plievier aus: ‚Des Kaisers Kuli’, ‚Ein Kapitän und zwölf Mann’, sowie Szenen aus einem bisher ungedruckten Drama.

Zu dem Schaffen des jungen proletarischen Autors sprach Helmut Rüdiger einige einführende Worte. ‚Nacktkultur und Lebensgestaltung’ war das Thema Adolf Kochs, Berlin, unterstützt von reichhaltigem Bilder-Material. Erbarmungslos riß er bürgerlichen und proletarischen Philistern die heuchlerische Maske herunter. Gute Musik umrahmte die Veranstaltungen. Gildenfreund Hans Lathus stellte seine reife Kunst zur Verfügung. Allen Kameraden, die zum Gelingen unserer Abende beigetragen haben, sei an dieser Stelle gedankt.

Zur Deckung der teilweise recht hohen Unkosten wurden Eintrittspreise von 60 bis 80 Pfg., für Erwerbslose 30 bis 40 Pfg. erhoben. Eine eigenartige Erscheinung, die Veranstaltungen mit Eintrittsgeldern sind im allgemeinen besser besucht, als solche mit freiem Eintritt.

In den allmonatlich einmal stattfindenden Mitgliederversammlungen wurde Stellung genommen zur Reorganisation der Reichsgilde. Der Anschluß im Mai vollzogen. Aussprachen über die literarische Produktion fanden statt. Wünsche und Anregungen an die Gildenleitung wurden gegeben. Die meisten Abende, und in Zukunft jeder, werden mit Vorträgen gefüllt. Dr. R. Franz sprach über das äußerst aktuelle Thema ‚Proletariat und Film’. Hans Amon über Rockers Buch ‚Die Sechs’. Br. Hösselbarth an vier Abenden über Trotzkis Buch ‚Mein Leben’. Essad Bay ‚Oel und Blut im Orient’, Armin T. Wegeners Rußlandbuch ‚Fünf Finger über dir’. Die Weihnachtsausstellung wurde eröffnet durch einen Vortrag: Der Arbeiter und das gute Buch.

Für die nächsten Versammlungen sind folgende Vorträge angesetzt: Gandhi und der Befreiungskampf des indischen Volkes, B. Mussolini und der Faschismus in Italien. An öffentlichen Vorträgen sind vorgesehen: Rudolf Rocker: Kunst und Freiheit, Knut Hamsum, Strindberg und Lichtbildervorträge über Daumier und Grosz.

Die Gruppe erhebt einen Extrabeitrag von 10 Pfg. pro Monat. Versuche, mit benachbarten Gildengruppen in Verbindung zu treten, scheiterten.

Die Unkosten für Referenten, Plakate und dergleichen ließen sich vermindern, wenn die Referenten hintereinander in mehreren Orten sprechen könnten. Die Reichsleitung müßte auf diesem Gebiet etwas mehr Initiative entwickeln. Lichtbildmaterial und Plakate stellten wir etlichen Gruppen zur Verfügung. Als Mangel wurde in unseren Aussprachen des öfteren die verspätete Lieferung der Gildenbücher und ‚Besinnung und Aufbruch’ gerügt, auch mehr Werbematerial muß heraus. Doch noch ist die Gile jung, auch damit wird’s besser werden.

Die Gruppe unterhält mit befreundeten Organisationen ein eigenes Heim. Eine reichhaltige Bibliothek steht zur Verfügung. Eine große Anzahl Schriften liegen aus. Die Verbindung der Mitglieder ist eine bessere geworden, die Abwicklung der verwaltungstechnischen Angelegenheiten erleichtert. Die Gruppe hat natürlich unter der schweren Wirtschaftkrise zu leiden, doch ist eine stetige Aufwärtsentwicklung zu verzeichnen.

Die Gruppe beginnt das dritte Jahr ihrer Tätigkeit. Nicht lähmen lassen durch Unkengeschrei linker und rechter Spießer, sondern mit stärkerer Energie die Werbearbeit fortsetzen, sei unsere Losung. Gildenarbeit ist Kampf gegen kapitalistisches Verlegertum und Partei-Monopol, ist Kulturarbeit im Proletariat. A. Holke“

Aus „Besinnung und Aufbruch“ (Juni 1930)

„Bericht der ersten Reichszusammenkunft der Gildenobleute in Berlin (Auszug)

„Genosse Holke, Leipzig, der Delegierte der stärksten und ältesten Gildengruppe im Reich, gab einen für alle lohnenden Arbeitsbericht seiner Gruppe. Die Leipziger verfügten u.a. über ein eigenes Heim. Sie haben ferner Lichtbildmaterial, das sie den Gruppen im Reiche gegen eine geringe Gebühr zur Verfügung stellen. In seinen weiteren Ausführungen gab Gen. Holke der Gildenleitung Anregungen über die Ausgrabung von Werken älterer und vergessener freiheitlicher Schriftsteller. Die Einreihung der Serie Dichter und Rebellen in geschmackvoller Kassette als Wahlband wurde von ihm angeregt. Ganz besonders wies er auf die Notwendigkeit einer sauberen und einwandfreien Plakatpropaganda hin. Unter Hinweis auf die in der Ausstellung gezeigten Plakate und Drucksachen stellte er kritische Betrachtungen über die Möglichkeiten eines zugkräftigen Plakates oder einer guten Werbedrucksache an.“

Aus: „Besinnung und Aufbruch“ (Juli 1930)

für www.syndikalismusforschung.info, Dezember 2009


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[1] Vgl.: Protokoll über die Verhandlungen des 18. Kongresses der Freien Arbeiter-Union Deutschlands (FAUD), 1930.

[2] Vgl.: „Der Syndikalist“, Nr. 28/1930.

[3] Bekannt geworden ist eine Beschickung aus Augsburg (1930), allerdings ohne inhaltliche Angaben vgl.: Helge Döhring: Damit in Bayern Frühling werde!..., S. 168, 258.

[4] Andreas Graf (Hg.): Anarchisten gegen Hitler. Anarchisten, Anarcho-Syndikalisten, Rätekommunisten in Widerstand und Exil, Berlin 2001, S. 39.

[5] Und zwar: Richard Thiede: Bericht über die illegale Tätigkeit der Freien Arbeiter-Union Leipzig (Anarchosyndikalisten), Leipzig, 1. März 1948, in: SAPMO-BA, DY 56/V 241/7/41.

[6] Bundesarchiv, R 58, 764, Bl. 156.

[7] Rudolf Berner: Die unsichtbare Front…, S. 46.

[8] Vgl.: Bundesarchiv, R 58, 764, Bl. 72 ff. Mehr ist auch aus den erhaltenen Akten des Reichsicherheitshauptamtes im Bundesarchiv nicht zu erfahren, ebenso nicht im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, wo sich weitere Beständen aus Polizeiakten befinden.

[9] Vgl.: Hans Jürgen Degen: Anarchismus in Deutschland 1945-1960. Die Föderation Freiheitlicher Sozialisten, Ulm 2002.

[10] IISG, Rocker Papers 121 - Briefe von Liesbeth Holke. 1946-1949. 1 Umschlag.

[11] Rundbrief für alle über den Anarchismus, Anarchosyndikalismus, Linksradikalismus sowie antiautoritäre Bewegungen forschende Historikerinnen und Historiker, Nr. 11/April 1994.

[12] Siehe: Bundesarchiv, Bestand R 58, 319, Bl. 43- 78. Mitglieder aus Erfurt: Bundesarchiv, R 58, 318, Bl. 227 ff., aus Chemnitz: R 58, 318, Bl. 49 ff./130 ff., aus Gera: R 58, 319, Bl. 244, aus Zwickau: R 58, 319, 259 ff., aus Halle: R 58, 319,Bl. 3 ff.

[13] Bundesarchiv, R 58, 319, Bl. 53 f.

[14] Vgl.: Debatte zu den Anträgen des 18. Kongresses der FAUD, Nr. 4/28. April 1930.

[15] Vgl.: Rudolf Berner: Die unsichtbare Front…, S. 92.

[16] Vgl.: Rudolf Berner: Die unsichtbare Front…, S. 46 (Kurze biographische Skizze zu Holke).

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