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Georg Usinger
Georg Usinger aus Offenbach am Main ist am 17.3.1990 im Alter von
90 Jahren gestorben. Mag er auch den meisten, die das lesen mögen, nicht bekannt
sein, so ist „Schorsch“ doch einer der Menschen, die die anarchistische und
anarchosyndikalistische Bewegung der 20er und 30er Jahre in Deutschland getragen
haben, und der auch bis zum Tod, trotz aller politischen und persönlichen
Niederlagen und Brüche, die Hoffnung auf eine Gesellschaft in Freiheit nicht
aufgegeben hat.Schorsch, aufgewachsen in einer kinderreichen Familie im Taunus,
kam als Jugendlicher nach Offenbach, einer Stadt mit einem hohen
Bevölkerungsanteil an Arbeiterinnen und Arbeitern, deren politisches Milieu
durch eine starke linke Bewegung geprägt war, die sich über SPD und später KPD
hinaus in eine Vielzahl kleiner Gruppierungen ausdifferenzierte.
Ende des 1. Weltkrieges noch zum Militär eingezogen, jedoch ohne Fronteinsatz
nach Offenbach zurückkommend, erlebte Schorsch den mißglückten Versuch der
Erstürmung der Offenbacher Kaserne durch revoltierende Arbeiter und Soldaten
noch als Betrachtender. 2 Jahre später, 1920, beim sogenannten Kapp-Putsch, war
Schorsch schon im Spartakus-Bund organisiert und trug einen Karabiner zur
Bekämpfung der Reaktion. Dies war zumindest von einem alten Mitstreiter nach der
Trauerfeier zu erfahren, worauf sich eine lebhafte Diskussion unter Alten und
Jungen entspann, ob Schorsch eher gewaltfreien oder militärischen Mitteln der
Gesellschaftsveränderung und Selbstverteidigung zuneigte. Durch Kontakte zu
einigen Anarchisten der Vorkriegsgeneration und durch die Lektüre von Kropotkins
„Die Eroberung des Brotes“ sympathisierte er immer mehr mit anarchistischen
Ideen.
1922 war er Mitbegründer der Offenbacher Ortsgruppe der Freien Arbeiter Union
Deutschlands. Diese hatte trotz ihrer begrenzten Zahl von Aktiven (vielleicht
bis zu 30) in den folgenden Jahren durch rege Propagandaarbeit und persönliche
Bezüge in andere politische und gesellschaftliche Kreise und in die Betriebe
einen nicht zu unterschätzenden Einfluß.
Bekannte AnarchistInnen wie Rudolf Rocker, Emma Goldman, Augustin Souchy, Erich
Mühsam und Theodor Plievier kamen zu Vorträgen und Besuchen nach Offenbach.
Schorsch war wohl als einer der „Älteren“ in der Gruppe, als Kassierer und reger
Zeitungsvertreiber von Zeitungen der FAUD wie „Der Syndikalist“, „Der
Arbeitslose“ und der selbst herausgegebenen „Der Junganarchist“ einer der die
Gruppe tragenden Personen.1925 heirateten Marie Durchholz und Schorsch. Marie,
1904 geboren, war selbst in dieser Zeit Aktivistin bei den Junganarchisten. Das
Leben mit drei Kindern war stark geprägt durch die wirtschaftliche Not dieser
Zeit; Schorsch war ungelernter Arbeiter und über Jahre hinweg immer wieder
arbeitslos. Dazu kam noch erschwerend die Unfähigkeit, politische Arbeit,
Familie und Partnerschaft zu vereinbaren. Marie und Schorsch lebten bis zu
Maries Tod, 1988, zusammen.
Nach der Machtübernahme der Nazis 1933 agierte die inzwischen stark geschrumpfte
Gruppe der FAUD in der Illegalität weiter. Die Festnahme von Schorsch beim
Flugblattverteilen veranlasste die Gestapo zur Hausdurchsuchung. Sie entdeckte
und beschlagnahmte IAA-Protokolle und die FAUD-Fahne, die „unter der Decke auf
dem Sofa“ versteckt war (so Schorsch). Schorsch wurde nach zweimonatiger U-Haft
in einem Prozeß in Darmstadt zu 2 Jahren Zuchthaus in Butzbach verurteilt.
Danach folgten zwei weitere Jahre Haft im KZ Dachau. Nach der Entlassung aus
Dachau wurde Schorsch als „wehrunwürdig“ eingestuft. Durch Inhaftierung,
Einberufung zum Militär und durch die ständige Kontrolle der in Offenbach
Verbliebenen endete die politische Arbeit der Gruppe.
In den Jahren nach 1945 versuchten Überlebende und Übriggebliebene der alten
FAUD die Gründung einer „Föderation Freiheitlicher Sozialisten“. Dies und die
Mitherausgabe der Zeitschrift „Die freie Gesellschaft“ von 1949 bis 1953 war die
letzte politische Aktivität von Schorsch in einen anarchistischen Kontext. In
der Deutschen Friedensgesellschaft wollten er und andere Anarchistinnen und
Anarchisten nach dem Scheitern der eigenen Organisationsversuche mit ihren Ideen
Einfluß nehmen.
Die Biographie eines Menschen zu schildern, wird diesem wohl lediglich in
Ansätzen gerecht. Als wir, ein paar Leute aus Frankfurt, vor gut 2 Jahren
Kontakt zu Schorsch aufnahmen, wussten wir nur von seiner Mitgliedschaft in der
FAUD in den 20er Jahren. Die Suche nach noch lebenden Anarchistinnen und
Anarchisten im Rhein-Main-Gebiet aus einer anderen Generation verbanden wir mit
der Hoffnung, uns ein Stück verschütteter Tradition wiederanzueignen. Dazu kam
die Neugierde auf einen alten „Genossen“. Schorsch hat uns trotz seines Alters
und seiner Gebrechlichkeit offen aufgenommen.
Doch wurde auch rasch klar, dass er weder bereit noch fähig war, Geschichten zu
erzählen und gewünschte Informationen zu liefern. Meist konnte Schorsch sich nur
schwer erinnern, oft wich er Fragen aus und glitt ab in schon gehörte
Begebenheiten. Viele auch der oben genannten Ereignisse in seinem Leben teilten
uns Verwandte und Bekannte mit. Über die Zeit im Konzentrationslager verweigerte
Schorsch jede Auskunft.
Die Besuche bei ihm waren oft zäh und anstrengend. Ging es ihm schlecht, dann
saß er mürrisch und schweigsam im Sessel. Bei guter Laune dagegen spazierten wir
am Main entlang, saßen Zigarre rauchend auf einer Bank, und Schorsch sprudelte
über voll Witz und Charme. Sein Interesse an uns galt auch unseren Hoffnungen
und Wünschen, unseren Lebensplanungen und politischen Aktivitäten. Schorsch war
kein Anarchist zur reibungslosen Identifikation. Widersprüche und Brüche im
eigenen Leben waren auch bei ihm deutlich wahrzunehmen, und er hatte niemals
versucht, uns irgendetwas vorzumachen. Vielleicht machte gerade das eine Nähe zu
ihm möglich. Unser Interesse an ihm und sein Interesse an uns war über mehr
bestimmt als über eine gemeinsame Weltanschauung, eine politische Überzeugung.
Für mich war Schorsch Freund und Genosse, ein Mensch aus einer anderen Zeit, mit
dem trotz aller Unterschiede eine intensive Begegnung möglich war.
Schorsch ist in einem Altenheim gestorben. Ihm blieb die Aufforderung an uns,
unser Leben so zu gestalten, dass wir das nicht zu erleiden hätten.
Michael, Frankfurt
Aus: Schwarzer Faden, Heft 2 (1990)
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