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„Zwei Jahre Gilde in Leipzig
Im April 1928 schlossen sich eine Anzahl Genossen zu einer Ortsgruppe der ‚Gilde
freiheitlicher Bücherfreunde’ zusammen, unabhängig von der in Berlin gegründeten
Gilde, mit eigenen Satzungen und Marken. Der Berliner Verwaltungs-Apparat war
der Sache nicht gewachsen, das Werbematerial unbrauchbar. Die von der Berliner
Leitung offerierten 1,65 und 1,95 Mark-Bücher (Warenhausausgabe) waren zur
Mitglieder-Werbung nicht geeignet. Wir boten unseren Gildenfreunden neben den
besten Werken aus dem Syndikalist-Verlage nur gute Literatur freiheitlicher
Autoren. Unsere Gilde wollte mehr sein, denn Büchervermittler. Wir wollten
teilnehmen an der Kulturarbeit der Leipziger Arbeiterschaft. Ist doch das
Kapitel ‚Kulturarbeit’ keineswegs erhebend! Die Zerrissenheit des Proletariats,
verursacht durch die politischen Drahtzieher, läßt es nicht zu großzügigem
Wollen kommen. Das von den Zentralgewerkschaften und der Partei unterhaltene
Arbeiter-Bildungs-Institut maßt sich auf kulturellem Gebiet eine Monopolstellung
an. Besondere Bildungs-Sekretäre bestimmen die Tendenz! Versuche, in Leipzig
eine Volksbühne auf breitester Grundlage zu schaffen, die Kulturzentrum sein
könnte, mußte an der Engstirnigkeit der sozialdemokratischen Parteihuber
scheitern. Eine von der KP aufgezogene Volksbühne konnte nicht leben. Für
freiheitliche Elemente, denen der Parteipferch zu eng, gab es keinen Raum zur
Betätigung! Diese Kameraden zu sammeln, war Ziel unserer Gruppe. Ende April 1928
traten wir an die Öffentlichkeit. Auftakt dazu war ein Vortrag Rudolf Rockers
über ‚Maxim Gorki’. Der Erfolg war vielversprechend. Wohl selten hatte ein
Redner eine andächtigere Hörerschaft aller Richtungen gefunden. Die ‚berufenen’
Vertreter der Leipziger Arbeiterschaft trafen Gegenmaßnahmen. Unsere weiteren
Veranstaltungen wurden bis auf einige totgeschwiegen! Die SP- und KP-Presse
lehnte Redaktionshinweise und Inserate ab. Doch unsere fernere Tätigkeit konnte
dadurch nicht unterbunden werden. Im August sprach Erich Mühsam temperamentvoll
über das Thema: ‚Künstler und Rebell’. Ein Genosse las aus seinen Werken. Zwei
Vorträge Rudolf Rockers über Jack London, Upton Sinclair und B- Traven waren ein
Erlebnis! In einer antimilitaristischen Veranstaltung sprach Helmut Rüdiger über
‚Der Krieg und die Literaten“. Bruno Vogel las aus: ‚Es lebe der Krieg!’ und aus
dem damals noch ungedruckten ‚Alf’. Die aufwühlende Kunst Franz Masereels
vermittelte uns Helmut Rüdiger durch einen Vortrag mit Lichtbildern. Eine Feier,
dem Gedenken Gustav Landauers gewidmet, war überfüllt. Rudolf Rocker hielt die
Gedenkrede, Lina Carstens rezitierte. An einem andern Abend sprach Helene
Stöcker kluge Worte über die Ehe als psychologisches Problem. Am 3.
Autoren-Abend las Theodor Plievier aus: ‚Des Kaisers Kuli’, ‚Ein Kapitän und
zwölf Mann’, sowie Szenen aus einem bisher ungedruckten Drama.
Zu dem Schaffen des jungen proletarischen Autors sprach Helmut Rüdiger einige
einführende Worte. ‚Nacktkultur und Lebensgestaltung’ war das Thema Adolf Kochs,
Berlin, unterstützt von reichhaltigem Bilder-Material. Erbarmungslos riß er
bürgerlichen und proletarischen Philistern die heuchlerische Maske herunter.
Gute Musik umrahmte die Veranstaltungen. Gildenfreund Hans Lathus stellte seine
reife Kunst zur Verfügung. Allen Kameraden, die zum Gelingen unserer Abende
beigetragen haben, sei an dieser Stelle gedankt.
Zur Deckung der teilweise recht hohen Unkosten wurden Eintrittspreise von 60 bis
80 Pfg., für Erwerbslose 30 bis 40 Pfg. erhoben. Eine eigenartige Erscheinung,
die Veranstaltungen mit Eintrittsgeldern sind im allgemeinen besser besucht, als
solche mit freiem Eintritt.
In den allmonatlich einmal stattfindenden Mitgliederversammlungen wurde Stellung
genommen zur Reorganisation der Reichsgilde. Der Anschluß im Mai vollzogen.
Aussprachen über die literarische Produktion fanden statt. Wünsche und
Anregungen an die Gildenleitung wurden gegeben. Die meisten Abende, und in
Zukunft jeder, werden mit Vorträgen gefüllt. Dr. R. Franz sprach über das
äußerst aktuelle Thema ‚Proletariat und Film’. Hans Amon über Rockers Buch ‚Die
Sechs’. Br. Hösselbarth an vier Abenden über Trotzkis Buch ‚Mein Leben’. Essad
Bay ‚Oel und Blut im Orient’, Armin T. Wegeners Rußlandbuch ‚Fünf Finger über
dir’. Die Weihnachtsausstellung wurde eröffnet durch einen Vortrag: Der Arbeiter
und das gute Buch.
Für die nächsten Versammlungen sind folgende Vorträge angesetzt: Gandhi und der
Befreiungskampf des indischen Volkes, B. Mussolini und der Faschismus in
Italien. An öffentlichen Vorträgen sind vorgesehen: Rudolf Rocker: Kunst und
Freiheit, Knut Hamsum, Strindberg und Lichtbildervorträge über Daumier und
Grosz.
Die Gruppe erhebt einen Extrabeitrag von 10 Pfg. pro Monat. Versuche, mit
benachbarten Gildengruppen in Verbindung zu treten, scheiterten.
Die Unkosten für Referenten, Plakate und dergleichen ließen sich vermindern,
wenn die Referenten hintereinander in mehreren Orten sprechen könnten. Die
Reichsleitung müßte auf diesem Gebiet etwas mehr Initiative entwickeln.
Lichtbildmaterial und Plakate stellten wir etlichen Gruppen zur Verfügung. Als
Mangel wurde in unseren Aussprachen des öfteren die verspätete Lieferung der
Gildenbücher und ‚Besinnung und Aufbruch’ gerügt, auch mehr Werbematerial muß
heraus. Doch noch ist die Gile jung, auch damit wird’s besser werden.
Die Gruppe unterhält mit befreundeten Organisationen ein eigenes Heim. Eine
reichhaltige Bibliothek steht zur Verfügung. Eine große Anzahl Schriften liegen
aus. Die Verbindung der Mitglieder ist eine bessere geworden, die Abwicklung der
verwaltungstechnischen Angelegenheiten erleichtert. Die Gruppe hat natürlich
unter der schweren Wirtschaftkrise zu leiden, doch ist eine stetige
Aufwärtsentwicklung zu verzeichnen.
Die Gruppe beginnt das dritte Jahr ihrer Tätigkeit. Nicht lähmen lassen durch
Unkengeschrei linker und rechter Spießer, sondern mit stärkerer Energie die
Werbearbeit fortsetzen, sei unsere Losung. Gildenarbeit ist Kampf gegen
kapitalistisches Verlegertum und Partei-Monopol, ist Kulturarbeit im
Proletariat.
A. Holke“
Aus „Besinnung und Aufbruch“ (Juni 1930)
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