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Bernd Drücke
Helmut Kirschey und die Spanische Revolution - Ein
Leben gegen den Faschismus
Im Oktober 2001 hatte ich das große Glück, den damals 88-jährigen Helmut
Kirschey persönlich kennen zu lernen. Der Anarchismusforscher Dieter Nelles
machte zu dieser Zeit gemeinsam mit dem Spanienkämpfer eine
Veranstaltungsrundrundreise, auch um die mit dem Kulturpreis des schwedischen
Arbeiterbildungsvereins ausgezeichnete Biographie "Helmut Kirschey: A las
Barricadas. Erinnerungen und Einsichten eines Antifaschisten" vorzustellen. Als
GWR-Redakteur und Infoladen-Bankrott-Kollektivist hatte ich die Veranstaltung in
Münster mitorganisiert.
Auch hier erzählte Helmut Kirschey mit dem Elan eines 30-Jährigen seine
Lebensgeschichte.
Gelebtes Leben
1913 in Elberfeld geboren, aufgewachsen in proletarischen Verhältnissen in
Wuppertal, engagierte sich Helmut früh in kommunistischen Zusammenhängen, löste
sich aber 1931 unter dem Eindruck der "Hexenprozesse" in der Sowjetunion vom
kommunistischen Jugendverband und trat der anarchosyndikalistischen Freien
Arbeiter Union Deutschlands (FAUD) bei.
"Der Grund dafür, dass ich die kommunistische Bewegung verließ, war der
Zentralismus und wie Stalin seine Macht missbrauchte. Wir waren es auch müde,
ständig zu hören 'Stalin ist das Licht, Stalin ist die Sonne' und all dieses
Geschwafel. Außerdem war die Partei zentralistisch, und man durfte Kritik nicht
einmal andeutungsweise äußern. Es hieß einfach: 'Die Partei hat es so
beschlossen.'"
Die von AnarchistInnen vertretenen Ansichten über die Machtverteilung zwischen
unten und oben und der dezentrale Organisationsaufbau der FAUD zogen ihn an.
"Die anarchosyndikalistische Bewegung in Deutschland war eine gewisse Zeitlang
eine Massenbewegung mit Hunderttausenden von Mitgliedern gewesen, aber als ich
eintrat, bestand sie nur noch aus etwa 4.000 Personen und war auf wenige Städte
konzentriert. Trotzdem war die Organisation aktiv."
Die antifaschistischen Aktivitäten der Wuppertaler AnarchistInnen, an denen sich
Helmut beteiligte, hatten Folgen. 1933, nach der nationalsozialistischen
Machtübernahme, wurde er verhaftet. Nach acht Monaten Haft im KZ Dinslaken floh
er in die Niederlande und engagierte sich bei den Deutschen Anarchosyndikalisten
(DAS). Als Exil-Organisation produzierten die DAS Zeitschriften wie Die
Internationale, die getarnt als Deutschtum im Ausland ins Reichsgebiet
geschmuggelt und dort konspirativ von anarchistischen Untergrundgruppen
verbreitet wurden.
Als sich im Sommer 1936 eine anarchosyndikalistische Massenbewegung erfolgreich
gegen den Franco-Faschismus wehrte und eine soziale Revolution in Gang setzte,
entschlossen sich Kirschey und andere Mitglieder der DAS die anarchistischen
KämpferInnen in Spanien zu unterstützen. Nach einer gefährlichen Reise gelang es
ihm, "aus der tiefsten Illegalität in Holland nach Port Bou zu kommen, wo es nur
so wimmelte von Symbolen der CNT-FAI [Confederación Nacional del Trabajo,
'Nationale Föderation der Arbeit(er)' - Federación Anarquista Ibérica,
'Anarchistische Föderation Spaniens']: auf Armbinden, Mützen, Halstüchern und
Fahrzeugen. Wir waren so überglücklich, dass wir weinen mussten."
In Barcelona produzierten die DAS unter anderem die deutschsprachige Zeitung
Soziale Revolution, sowie Radiosendungen, die über Kurzwelle ins Deutsche Reich
ausgestrahlt wurden.
"Außerdem fungierten wir als eine Art Anlaufstelle für ausländische
Journalisten, Anarchisten und Syndikalisten, die nach Barcelona kamen, um sich
über die Ereignisse zu informieren. Die international bekannteste Anarchistin,
Emma Goldman, kam im Oktober 1936 nach Spanien. Emma Goldman war eine
phantastische Frau, und wir führten lange Gespräche mit ihr. Sie stand der CNT
sehr kritisch gegenüber, weil die Organisation sich darauf eingelassen hatte,
die Funktion des Staatsapparates zu übernehmen. Sie fand, es sei nicht passend
für eine anarchistische Bewegung, sich mit so etwas zu beschäftigen. Wir
erklärten ihr, dass wir keine Wahl gehabt hatten und dass es vielmehr darum
ging, zu retten, was zu retten war. Wir kämpften gegen eine ganze Welt:
Deutschland, Italien und Portugal gaben Franco ihre ganze Unterstützung."
Anfang 1937 ging Helmut Kirschey als Milizionär der anarchistischen Kolonne
Durruti an die Front. Im Mai 1937 wurde er Zeuge der Straßenkämpfe zwischen
Stalinisten und AnarchistInnen.
Kurz darauf wurde er gemeinsam mit anderen deutschen AnarchosyndikalistInnen von
sowjetischen Geheimagenten verhaftet und sieben Monate lang in ein Gefängnis bei
Valencia gesperrt und verhört. Im April 1938 wurde er freigelassen.
Mittlerweile hatten die von Moskau unterstützten Stalinisten die libertäre
Revolution erstickt: die anarchosyndikalistische CNT und die anarchistische FAI
hatten ihre herausragenden Positionen verloren. Der Sieg des Faschismus rückte
näher, und zudem wurden libertäre und antiautoritäre SozialistInnen von Stalins
Schergen bedroht. Helmut Kirschey floh deshalb über Paris nach Amsterdam und
schließlich nach Schweden.
Dort wurde er für einige Jahre Mitglied der syndikalistischen Sveriges Arbetares
Centralorganisation (SAC). Trotz der Gefahr als "unerwünschter Ausländer" ins
nationalsozialistische Deutschland abgeschoben zu werden, schmuggelte er mit
schwedischen Eisenbahnern Flugblätter in die Züge, in denen Soldaten der
Wehrmacht durchs "neutrale" Schweden transportiert wurden.
1943 erhielt er seine erste Arbeitserlaubnis, und 1955 wurde er schwedischer
Staatsbürger.
Während seines Vortrags am 8. Oktober 2001 in der Aula der ESG Münster sparte
Helmut Kirschey nicht mit Kritik an Teilen der autonomen Szene: Während der
Proteste gegen den EU-Gipfel im Sommer 2001 seien Teile seiner Heimatstadt
Göteborg von "angeblichen Anarchisten" (Kirschey) verwüstet worden. Das habe
rein gar nichts mit Anarchismus zu tun und sei völlig kontraproduktiv. So
entspann sich eine heiße "Gewalt"-Diskussion mit den etwa 80 ZuhörerInnen, die
Helmuts Meinung zu den Ausschreitungen in Göteborg nur zum Teil akzeptieren
wollten.
Helmut sprach ein rheinländisches Deutsch der 20er Jahre, wie es wohl nur jemand
sprechen kann, dessen Jugendsprache sich quasi "konserviert" hat.
Als wir nach der Veranstaltung auf Helmuts Wunsch hin in das gutbürgerliche
Restaurant Zum Alten Pulverturm einkehrten, war er begeistert, dass er mit Sara,
einer jungen Genossin, Thorsten, einem FAU-Aktivisten, sowie einem zufällig am
Nebentisch sitzenden Dänischlehrer auch Schwedisch sprechen konnte.
Helmut und Dieter übernachteten bei mir und blieben bis zum folgenden Nachmittag
in Münster. So konnten wir noch lange diskutieren und uns austauschen.
Beeindruckend fand (nicht nur) mein damals achtjähriger Sohn Deniz Helmut
Kirscheys riesige Pillendose auf dem Nachttisch, in der diverse Medikamente zu
finden waren, die Helmut jeweils zu unterschiedlichen, genau vermerkten
Tageszeiten einnehmen musste.
Helmut erzählte, dass er seine schwedische Frau 1940 kennen und lieben gelernt
hatte. Die Beiden führten eine lange und glückliche Beziehung. Einmal, in den
1940er Jahren hatte er sich jedoch kurzzeitig in eine andere Göteborgerin
verliebt.
Um die Ehe mit seiner geliebten Frau nicht zu gefährden, hatte er dann aber nach
kurzer Zeit den Kontakt zu seiner Freundin abgebrochen.
50 Jahre später, seine Frau war schon gestorben, trafen sich beide unverhofft im
Altenheim wieder. Die alte Liebe flackerte wieder neu auf, und so schwebte der
88-jährige Helmut auf rosa Wolken, als er uns mit leuchtenden Augen erzählte,
wie er nun mit seiner Freundin Hand in Hand durchs Leben gehe.
Zu seiner Freude konnte ich ihm einen kleinen Schatz präsentieren: Ausgaben der
oben schon erwähnten Internationale(n) und der Soziale(n) Revolution. Ich hatte
diese anarchosyndikalistischen Zeitungen in den 1990ern im Zusammenhang mit den
Forschungsarbeiten für meine Dissertation über "Libertäre Presse" im
Internationalen Institut für Sozialgeschichte (IISG Amsterdam) und in der
Geschichtswerkstatt Dortmund gefunden und kopiert. Helmut war begeistert, nach
so langer Zeit die von ihm mitproduzierten (und noch heute sehr lesenswerten!)
Organe des Anarchosyndikalismus wieder in den Händen zu halten. "Die habe ich
seit über 60 Jahren nicht gesehen!"
Und da spielte es auch keine Rolle, dass ich nur Kopien hatte.
Am 23. August 2003 starb Helmut Kirschey im Alter von 90 Jahren in Göteborg
"Er war vermutlich der letzte überlebende deutsche Freiwillige, der im
Spanischen Bürgerkrieg in der legendären 'Kolonne Durruti' kämpfte. (...) In den
letzten 15 Jahren seines Lebens wurde Helmut in Schweden eine Figur des
öffentlichen Lebens. Als deutscher Antifaschist und Spanienkämpfer genoss er
großes öffentliches Ansehen, und er war ein gefragter Zeitzeuge in Schulen,
Universitäten und bei politischen Jugendorganisationen. (...) Als wir uns im Mai
in Wuppertal verabschiedeten, sprach er davon, dass es vermutlich ein Abschied
für immer sei. Er sah seinem Tod gelassen entgegen. Halb ernst, halb spaßhaft
sagte er immer, jeder Tag, den er Hitler überlebt habe, sei für ihn ein
Geschenk", so Dieter Nelles in einem bewegenden Nachruf.
A las Barricadas - Ein Film über Helmut Kirschey
Drei Jahre nach Helmut Kirscheys Tod und 70 Jahre nach Beginn der Spanischen
Revolution haben Volker Hoffmann, Dieter Nelles, Jörg Lange und Angelika Feld
eine DVD über den Spanienkämpfer vorgelegt: "A las barricadas". Der knapp
einstündige Film des Wuppertaler Teams begleitet Helmut Kirschey auf einer
Erinnerungsfahrt nach Spanien an die Stätten, wo er zwischen 1936 und 1939 aktiv
an den Kämpfen des Bürgerkriegs teilnahm.
Der 1989 und 2006 produzierte Streifen ist liebevoll und einfühlsam gemacht.
Geschichte von unten, im besten Sinne. Für die, die Helmut Kirscheys Biographie
gelesen und ihn bei einem seiner zahlreichen Vorträge erlebt haben, bietet er
zudem schöne dejá vues. Vieles von dem, was Helmut dort berichtet hatte, erzählt
er auch hier, an den Originalschauplätzen des Spanischen Bürgerkriegs. Der Film
ist nicht nur allen zu empfehlen, die sich für die Geschichte des Bürgerkriegs
und für das gelebte Leben des Revolutionärs und großen Menschenfreunds Helmut
Kirschey interessieren. "Wenn ich erzähle, versuche ich, der Zeit zwischen 1914
und 1945 ein Gesicht zu geben, und die Reaktionen darauf sind immer sehr
positiv. Viele Male habe ich Sätze gehört wie: ‚Die Lehrer haben davon erzählt,
und wir haben nicht alles verstanden, aber wenn Sie darüber sprechen, ist es
etwas ganz anderes.' Das freut mich zu hören, dabei habe ich nur das erste Jahr
der Hitlerzeit mitgemacht, das Allermeiste blieb mir erspart."
Der Film sollte nicht nur in Libertären Zentren, sondern unbedingt auch in
Schulen und Universitäten gezeigt werden. Denn das sozialrevolutionäre Feuer,
das ein Leben lang im Herzen des Antifaschisten Helmut Kirschey loderte, könnte
auch jene erfassen, die dieses dokumentarische Werk sehen.
Aus: Graswurzelrevolution Nr. 314 (Dezember 2006)
http://www.graswurzel.net/314/kirschey.shtml
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