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Helge Döhring:
Zwischen Revolution und Reform
Die Stellung der Freien Arbeiter Union Deutschlands FAUD zum
Tarifvertragssystem
Die „Freie Vereinigung deutscher Gewerkschaften“ (FVdG), gegründet 1897,
unterschied sich von den sozialdemokratisch dominierten Zentralverbänden u.a.
dadurch, daß sie nicht nur grundsätzlich föderalistisch organisiert war
(Selbständigkeit der einzelnen Ortsvereine), sondern auch dadurch, daß sie den
revolutionären Sturz des kapitalistischen Wirtschaftssystems anstrebte, statt
Tarifpolitik zu betreiben. Statt Berufsinteressen sollten mittels direkter
Aktionen Klasseninteressen vertreten werden. Statt Sicherung des durch
Arbeitskämpfe erreichten durch Tarifverträge, bevorzugten die Ortsvereine der
FVdG weitere Angriffskämpfe in den Betrieben bis hin zum Generalstreik. (1)
Die Prinzipien der FAUD
Aus der FVdG ging nach dem 1. Weltkrieg unter tatkräftiger Mithilfe Rudolf
Rockers im Jahre 1919 die Freie Arbeiter Union Deutschlands (FAUD) hervor und
erlangte durch die ausgearbeitete Prinzipienerklärung ein deutliches
anarcho-syndikalistisches Profil. Das beinhaltete auch die Ablehnung des
Tarifvertragssystems, welches im Dezember vom Rat der Volksbeauftragten als
rechtsschöpferischer Faktor anerkannt worden war. Als Garant dieses
Rechtsverhältnisses fungierte (manifestiert in der Weimarer Reichsverfassung)
der Staat, welchen die anarcho-syndikalistischen GewerkschafterInnen im
Gegensatz zu den Zentralverbänden grundsätzlich ablehnten.
Die Konsequenzen wurden im „Syndikalist“ (Organ der FAUD) so beschrieben:
„1. Können die Arbeiter unter den Bedingungen des Tarifsystems nicht mehr
unmittelbar für ihre Interessen kämpfen (Friedenspflicht, d.h. Burgfrieden im
Betrieb, Einschränkung des Kampfmittels der „Direkten Aktion“)
2. sind sie gezwungen, den Kampf zu delegieren und können dessen Ergebnisse
nicht mehr kontrollieren (Zentralisierung)
3. sind die Arbeiter in der Führung ihrer Arbeitskämpfe nicht mehr flexibel,
d.h. sie können sich im Kampf um den Preis ihrer Arbeitskraft nicht mehr den je
spezifisch regionalen, innerhalb der einzelnen Industriebranchen
unterschiedlichen und konjunkturellen Bedingungen anpassen. (Zentralisierung)
4. bedeutet das Tarifwesen „Lähmung jeder Aktionsfreudigkeit“, besonders durch
das Schlichtungsrecht und die Friedenspflicht, sowie durch die finanzielle
Organisationshaftung im Organisationsvertrag.“ (2)
Auf dem 12. Kongress der Freien Vereinigung deutscher Gewerkschaften im Dezember
1919 wurde bei den Unterschieden zu den Zentralverbänden festgehalten:
„Die Zentralverbände sind Vertretungskörper für die Tarifvertragspolitik, die
Syndikalisten bekämpfen die Tarifverträge.“ (3)
Kurswechsel
Infolge der Stabilisierung der Klassenlage in der Weimarer Republik u.a. durch
die Verabschiedung des Betriebsverfassungsgesetzes von 1920, der Inflation von
1923 und schließlich durch die Einführung der Kranken-, Invaliden- und
Arbeitslosenversicherung, sowie der schwindenden Zuversicht auf eine baldige
revolutionäre Veränderung des Staats- und Wirtschaftssystems, sanken die
Mitgliederzahlen der FAUD Mitte der zwanziger Jahre auf weniger als die Hälfte
und bis 1930 auf weniger als ein Zehntel der unmittelbaren Nachkriegszeit. Die
FAUD verfügte so bis auf wenige Ausnahmen über keine relevante Massenbasis in
den Betrieben mehr.
Demgegenüber wurden die mitgliederstarken ADGB-Gewerkschaften erfolgreich in das
kapitalistische Wirtschaftssystem und das politische System integriert, die FAUD
trotz ihrer ständigen Appelle gegen die „Wirtschaftsdemokratie“ marginalisiert.
Die überwältigende Mehrheit der Arbeiter entschied sich für den generellen
Betriebsfrieden und gegen die Überwindung der kapitalistischen Produktionsweise.
Befanden sich die mitgliederstärksten FAUD-Verbände an Rhein und Ruhr schon in
den vorangegangenen Jahren in Opposition zur reichsweiten Theorie und Praxis, so
begann von dort ausgehend eine Reflexion über den Grundsatz der Ablehnung von
Tarifverträgen einzusetzen. Solange im Gegensatz zu der rapide sinkenden
Mitgliederzahl perspektivisch an einen Aufschwung der Bewegung nicht zu denken
sei, wollten einige Ortsvereine der FAUD wenigstens einen „Waffenstillstand“ mit
den Kapitalisten Vorort aushandeln.
So geschah es bei den Berliner Fliesenlegern, welche einen festen Stundenlohn
aushandelten und „viele Mitglieder“ gewannen mit der Aussicht, diese „zu
Syndikalisten (zu) erziehen“. (4)
Auch Augustin Souchy als Angehöriger der prinzipientreuen Geschäftskommission
der FAUD in Berlin gab 1928 der veränderten Lage in Deutschland nach und
befürwortete in einem Beitrag in „Die Internationale“ (Theorieorgan der FAUD)
Tarifverträge, wenn sie möglichst kurzfristig angelegt seien, um den
Aktionsspielraum noch so groß wie möglich zu halten. Tarifverträge seien bloßer
Ausdruck vorangehender Betriebskämpfe. Die kämpfenden Arbeiter hätten, gerade in
Anbetracht des reichsweiten allgemeinen Rückgangs revolutionärer Tätigkeiten in
den Betrieben, ein Recht darauf, ihre Errungenschaften auch rechtlich
abzusichern. Reformen wurden ab Mitte der zwanziger Jahre als legitimes Mittel
auf dem Weg zur revolutionären Veränderung angesehen, wenn die Anwendung
syndikalistischer Kampfformen keine weiteren Erfolge versprächen. (5)
1929 wurden seitens weiterer FAUD Ortsvereine Tarifverträge abgeschlossen, so in
Groß-Berlin (Manteltarifvertrag) bei den Kistenmachern oder bei den
Fliesenlegern an Rhein und Ruhr, worüber der Düsseldorfer Karl Windhoff
berichten konnte:
„Wenn wir die Mehrheit einer Berufsgruppe hinter uns haben, dann würden wir ja
geradezu unsere Pflicht versäumen, wenn wir unsern Einfluß nicht bei der
Tarifgestaltung zur Geltung bringen. Wir haben in verschiedenen rheinischen
Orten Löhne erreicht, die um 30 bis 35 % höher sind als in den übrigen Orten.
Ich frage: ist das ein Erfolg oder nicht? Wir haben erreicht, daß wir darüber
bestimmen, wer eingestellt und wer entlassen wird. Ist das ein Erfolg oder
nicht? Wir haben die Zentralgewerkschaft genötigt, unsere Abmachungen mit zu
unterschreiben. Wir haben die staatlichen Schlichter ausgeschaltet. Wir haben
die schriftliche Bestimmung durchgesetzt: ‚Für alle Streitigkeiten sind die
amtlichen und staatlichen Schlichtungsstellen auszuschalten, soweit dazu nicht
ein gesetzlicher Zwang besteht.’ Ich frage: ist das ein Erfolg oder nicht? Wir
haben in verschiedenen Verträgen durchgesetzt, daß nur Mitglieder unserer
Fliesenleger-Organisation eingestellt werden. Wir arbeiten täglich nur 7 ½
Stunden und am Sonnabend Nachmittag gar nicht. Bei schlechter Konjunktur
bestimmen wir, daß die Arbeitszeit weiter so verkürzt wird, daß keiner entlassen
zu werden braucht. In der Zeit der jetzigen Massenarbeitslosigkeit ist die
radikale Verkürzung der Arbeitszeit eine Notwendigkeit, für die alle Arbeiter
und auch viele kleinbürgerliche Schichten Verständnis haben. Wir arbeiten jetzt
an der Durchsetzung der fünftägigen Arbeitswoche.“ (6)
Die Konkurrenzsituation zu den Zentralgewerkschaften war eine existenzielle: Die
ADGB-Gewerkschaften machten, wie Windhoff anmerkte, auch innerbetrieblich in
Kollaboration mit den Unternehmern gegen anarcho-syndikalistische Aktivitäten
und Kollegen mobil, was zu zahlreichen Entlassungen von FAUD-Mitgliedern führte
und damit zum drohenden Verlust der verbliebenen betrieblichen Basis der FAUD
auch in deren Hochburgen. Hinzu kam der Alleinvertretungsanspruch der
ADGB-Gewerkschaften auch im Tarifrecht, womit von revolutionären Gewerkschaften
abgeschlossene Tarifvereinbarungen mit dem Unternehmertum gesetzlich für
ungültig erklärt werden konnten.
Fritz Linow, Arbeitsrechtsexperte der FAUD, schloß sich der Forderung nach einem
anderen Umgang in der Tarifvertragsfrage an: „Ich bin der Meinung, daß der
Anarcho-Syndikalismus nur existenzberechtigt ist, wenn er in der Lage ist,
praktisch die Gesetze des Lohnkampfes – und dazu gehört auch die Bestimmung der
Lohn- und Arbeitsbedingungen – richtungsgebend zu beeinflussen. Verfehlt ist der
Einwurf, daß wir Opportunisten seien, wenn wir die Interessenvertretung pflegen.
Ich bin der Meinung, daß der Anarchismus überhaupt erst dann lebendige Gestalt
annimmt, wenn seine Grundsätze im Klassenkampf der Arbeiter gegen die
kapitalistische Gesellschaftsordnung auf ihre Stichhaltigkeit untersucht werden.
Kann der Anarchismus dort mit dem Kapitalismus seine Klinge kreuzen, dann ist er
innerhalb der Gewerkschaftsbewegung gesund. Es kommt nur darauf an, Mittel und
Wege zu suchen, breitere Kreise der Arbeiterschaft davon zu überzeugen, daß man
nicht abwarten soll, was der große Zentralverband tut, sondern daß man aus
eigenem (fehlt im Original, Anm. d. Autoren) die Lohn- und Arbeitsbedingungen
gestalten muß. Es kommt darauf an, eine revolutionäre Aktionsgemeinschaft zu
besitzen.“ (7)
Ebenso äußerte sich Helmut Rüdiger als Mitglied der Geschäftskommission: „(...)
bekenne ich mich zur Teilnahme an Tarifverträgen, zum Kampf für das
Vertretungsrecht bei den Arbeitsgerichten usw.“ (8)
Dennoch verbleiben andere Ortsvereine in strenger Opposition, darunter
auffallend viele, welche gar nicht (mehr) in Betrieben verankert waren und
außerhalb der Arbeiterbewegung standen, wie z.B. die FAUD in Kassel. In solchen
Gruppen entfiel die Motivation, innerhalb der Organisation verbliebene
Mitstreiter durch das Abschließen von Tarifverträgen an die FAUD zu binden. So
wiederholten Mitglieder der Kassler FAUD noch 1928 im „Syndikalist“ die eingangs
angeführten Argumente gegen die Tarifpolitik mit der aus ihrer Sicht
folgerichtigen Ergänzung, daß Ortsvereine der FAUD, welche Tarifverträge
abschließen, sich außerhalb der Organisation positionieren würden. (9)
Beschluß Reichsarbeitsgericht
In zweiter Instanz wurde der FAUD die Tariffähigkeit mit folgender Begründung
vom Reichsarbeitsgericht (RAG-Leipzig) abgesprochen: Eine Organisation, deren
Bestrebung dahin geht, die Arbeiter zum Klassenkampf im Wege der direkten Aktion
zu veranlassen, kann nicht gleichzeitig Bindungen eingehen, wie sie der Abschluß
von, wenn auch nur kurzfristigen, Tarifverträgen zur Folge hat. Die der Freien
Arbeiter Union Deutschlands (FAUD) angeschlossenen Verbände, die das geltende
Tarif- und Schlichtungswesen nicht als für sie verbindlich anerkennen, sind
daher nicht tariffähig. (10)
Schon das Landesarbeitsgericht (LAG) Duisburg hat aus denselben Gründen unter
Berufung auf die Prinzipienerklärung der FAUD von 1919 und der programmatischen
Grundlage der FAUD (laut Beschluß vom 16. Kongreß 1927) die Tariffähigkeit der
FAUD als nicht gegeben angesehen. Die Kompromißstrategie der FAUD wurde
durchschaut. Denn obwohl die „Tariffähigkeit als satzungsmäßiges Ziel der
Vereinigung“ (FAUD) vom LAG in den Statuten der FAUD ausgemacht worden war, daß
aber „trotz des Wortlauts der Satzung der wirkliche Zweck der FAUD nicht, auch
nicht nebenher, auf Abschluß ernstgemeinter Tarifverträge gerichtet ist.“ Das
Reichsarbeitsgericht formulierte diese Einschätzung so: „Diesem Abschlusse
einzelner Tarifverträge können Erwägungen rein taktischer Natur zugrunde liegen,
die es haben angezeigt erscheinen lassen, die Durchführung der Grundsätze der
Prinzipienerklärung auf Zeit zurückzustellen. Das Landesarbeitsgericht hat sich
deshalb mit Recht auf den Standpunkt gestellt, es könne aus dem Abschluß
einzelner Tarifverträge noch nicht ohne weiteres gefolgert werden, daß nun auch
eine grundsätzliche Bereitschaft bestehe, die durch die Gesetzgebung getroffene
Regelung des Tarifvertrags- und Schlichtungswesens als verbindlich anzuerkennen.
(...) Solange daher die der FAUD angeschlossenen Vereinigungen sich zu den
Grundsätzen bekennen, wie sie vorstehend dargelegt sind, muß auch damit
gerechnet werden, daß die diesen Vereinigungen angehörenden Arbeitnehmer ohne
Rücksicht auf bestehende Tarifverträge diesen mit der Bindung an Tarifverträge
nicht vereinbarten Grundsätzen entsprechend handeln. (...) muß der
Tarifkontrahent, der die im Tarifvertrag bestimmten besonderen Verpflichtungen
und die Friedenspflicht übernimmt, dem Vertragsgegner eine Gewähr der eigenen
Tariftreue und der Einflußnahme auf die Mitglieder im Sinne des Vertrages
bieten.(...) Anmerkung (...) Zu einer solchen Einflußnahme ist er auch gar nicht
in der Lage, da die Mitglieder nicht verpflichtet sind, einer derartigen
Einwirkung Folge zu geben.“ (11)
Urteilskritik der FAUD
Fritz Linow (FAUD) kritisierte in einem Beitrag in „Die Internationale“ die
mangelnde Definition des Begriffs „direkte Aktion“, auf welchen sich das
Gerichtsurteil in jeder Beziehung stützte und den Mangel an Beweisen für die
unterstellte Absicht, die FAUD wolle Tarifverträge brechen. Die Ablehnung des
Schlichtungsverfahrens durch die FAUD sei völlig legitim, da Schlichtungen immer
auf Freiwilligkeit beruhen würden. Und Freiwilligkeit könne „nicht durch einen
einfachen Gerichtsbeschluß zu einem Zwang gestempelt werden.“ Der Abschluß von
Tarifverträgen auf lokaler Ebene beweise die Tariffähigkeit eher, als daß sie
Gründe böten, die Tariffähigkeit nicht anzuerkennen, aufgrund angeblicher und
nicht definierter Widersprüche. Er wies ausdrücklich darauf hin, daß der
„Tarifvertrag (...) immer nur eine taktische Maßnahme (ist), denn er entspring(e)
keinem Prinzip, sondern den Verhältnissen.“ (12)
Das RAG wurde darauf hingewiesen, daß auch „tariffähige“ Gewerkschaften im
Arbeitskampf Mittel der direkten Aktion anwenden – ohne Erfolg. Demgegenüber
gelang es der Industrieföderation der Bauarbeiter (FAUD) nach Revision im August
1929 von Arbeitsgerichten als „gewerkschaftliche Vereinigung“ anerkannt zu
werden. Diesen Trend gälte es zu verstärken, um weiteren Mitgliederschwund zu
verhindern. (13) In den Folgejahren gelang es der FAUD weder tariflich, noch
außertariflich, verstärkt in den Betrieben Fuß zu fassen. Nicht wenige
Ortsvereine beteiligten sich sogar an Betriebsratswahlen, in der Hoffnung, den
Mitgliederrückgang aufzuhalten. Die Marginalisierung in der Mitgliederstärke
schritt jedoch voran und erreichte 1932 einen Tiefstand von Reichsweit etwa
4.300 Mitgliedern, bis die FAUD 1933 verboten wurde.
Als Folgen des negativen Entscheids des Reichsarbeitsgerichtes vermutete Fritz
Linow: „Die FAUD ist leider eine Minderheitsbewegung, aber sie wird die Arbeiter
nur in ihren Reihen halten, wenn sie ihre Interessen vertreten kann. Wir müssen
damit rechnen, daß die Presse unserer Gegner die Leipziger Entscheidung des
Reichsarbeitsgerichts nach Kräften ausschlachten wird. Dann werden
beispielsweise die Bauarbeiter sich sagen, daß sie als Mitglieder der FAUD nicht
einmal 3 Mark Werkzeug- oder Laufgeld einklagen können, weil es nicht lohnen
würde, wenn sie deswegen selbst zum Arbeitsgericht laufen müssen. Neben diesen
schädlichen Wirkungen kann die Leipziger Entscheidung auch sehr unangenehme
Nachwirkungen für die Arbeitsnachweise der Bauarbeiter, Fliesenleger und Töpfer
haben. Diese Nachweise können auf Grund der Leipziger Entscheidung eventuell
aufgelöst werden.“ (14)
Dagegen betonte der Föderationsleiter der Bauarbeiter (Markow) aus
branchenspezifischer Sicht: „Der Beschluß des Reichsarbeitsgerichts beweist die
Notwendigkeit der Industrieföderationen besser als es die beste Rede tun könnte.
Wir haben eine solche Entscheidung vorausgesehen und haben deshalb den
Industrieföderationen angeraten, rechtzeitig vorher ihre Anerkennung als
tariffähige Vereinigungen durchzusetzen. Wenn der 18. Kongreß dem Aufbau der
Industrieföderationen die richtige Beachtung schenkt, dann werden die Folgen der
Leipziger Entscheidung für uns nicht so schwarz sein wie sie Linow geschildert
hat. Die Föderation der Berliner Bauberufe hat sich ein eigenes
Organisationsstatut geschaffen, das ihr die Anerkennung vor den Arbeitsgerichten
verschafft hat. Derselbe Richter, der den Vorsitzenden der
Provinzialarbeitsbörse als Vertreter abwies, mußte den Vertreter der Föderation
der Berliner Bauberufe anerkennen, weil das Organisationsstatut den Mitgliedern
den Rechtsschutz zuspricht und weil aus den Statuten zu ersehen ist, daß für die
Föderation die FAUD eine Spitzenorganisation ist ähnlich wie der ADGB für die
Zentralverbände. Die Bauberufe in Groß-Duisburg haben das Berliner Statut
übernommen und damit auch den Erfolg erzielt, daß nunmehr ihre Vertreter
anerkannt wurden, während vorher die von der FAUD gestellten Vertreter
abgewiesen wurden. Bei dieser Sachlage wird für die gegen die
Industrieföderationen gerichteten Anträge keiner eintreten können, der einen
weiteren Mitgliederrückgang verhindern will.“ (15)
Letzte Entscheidung
Der 19. und damit letzte Reichskongreß der FAUD zu Ostern 1932 nahm
folgendermaßen Stellung zur Tarifpolitik:
„Die FAUD sieht in den Kollektivverträgen eine höhere Form der Regelung der
Lohn- und Arbeitsbedingungen als im Individualvertrag. Sie anerkennt die
kollektive Bestimmung über die Arbeitslöhne und Arbeitsbedingungen.
Sie unterstreicht das Zusammenwirken der Arbeiter, um den Arbeitsverhältnissen
ein einheitlicheres Gepräge zu geben. Aus diesem Grunde schließt sie dort, wo
die Bedingungen gegeben sind, Kollektivverträge ab. Sie sieht in solchen
Abschlüssen eine unumgängliche Pflicht, um die Lohngestaltung und die Gestaltung
der Arbeitsbedingungen dem Einfluß der reformistischen Gegner zu entziehen. Sie
wendet sich aber gegen die sogenannte Tarifvertragspolitik, weil diese nicht
nach dem Inhalt und nach der Interessenberücksichtigung der Arbeiter fragt,
sondern dem Tarifvertrag an sich zum Ziel hat. Die FAUD ist der Meinung, daß die
Arbeiter um den Inhalt ihrer Kollektivverträge kämpfen müssen. Nicht auf den
Tarifvertrag kommt es an, sondern auf den Inhalt desselben.
Bei allen Kollektivvertragsabschlüssen ist deshalb oberster Grundsatz aller
abschließenden Ortsgruppen der FAUD, daß diese Verträge sich von denen der
reformistischen Gegner, sowohl der Form als auch dem Inhalt nach unterscheiden
müssen. Dies gilt besonders für diejenigen Teile der Kollektivverträge, die auf
die Schlichtung von Streitigkeiten Bezug nehmen. In allen Fällen ist um eine
Ausschaltung der staatlichen Schlichtungseinrichtungen für Arbeitsstreitigkeiten
zu drängen. Die Lauffristen der Kollektivverträge sind unbefristet zu gestalten
und oder möglichst kurzfristig zu halten. Bei allen Kündigungsfristen müssen auf
alle Fälle lange Fristen abgelehnt und die Kündigungstermine grundsätzlich in
solche Zeiten verlegt werden, wo die wirtschaftliche Kraft der Arbeiter
ausreicht, Änderungen in ihrem Interesse durchzusetzen.
Wo die Voraussetzungen gegeben sind, schließt die FAUD auch
Betriebsvereinbarungen ab. Dabei ist auf die Laufzeiten der sonstigen Verträge
in anderen Betrieben oder im Gewerbe oder in der Industrie dergestalt Rücksicht
zu nehmen, daß diese Vereinbarungen nicht über die Lauffristen der übrigen
Verträge hinausreichen, um zu verhindern, daß die tariflich gebundenen Arbeiter
bei Arbeitseinstellungen der übrigen Betriebe zu Streikbrechern werden.“ (16)
Zwei regionale Beispiele:
„Tarifverträge und die Beteiligung an Betriebsratswahlen wurden von der
Sömmerdaer Freie Vereinigung aller Berufe (FVaB) von Anfang an akzeptiert. In
dieser Beziehung führten die Sömmerdaer ArbeiterInnen nahtlos die Praktiken der
gewerkschaftlichen Auseinandersetzung weiter, die sie aus ihrer Zeit in den
freien,- reformistischen Gewerkschaften gewohnt waren. Es herrschte die Meinung
vor, daß Tarife und Betriebsräte ‚besser als nichts’ seien.“ (17)
In Radebeul bei Dresden streikten noch im November 1932 die Maschinenformer der
Gebler AG (Eisenguß- und Emaillierwerk) u.a. gegen Lohnkürzungen und für bessere
Akkordsätze. Dabei war ein Teil des Radebeuler FAUD- Ortsvereins, dessen
Vorsitzender Arno Scheffler Mitglied der Verhandlungskommission war, welche mit
der Betriebsleitung die künftigen Arbeitsbedingungen verhandelte und dabei für
die Arbeiterschaft sehr erfolgreich war. (18)
(1) Vgl.: Protokoll über die Verhandlungen vom 12. Kongreß der Freien
Vereinigung deutscher Gewerkschaften, S. 80 f.
(2) „Der Syndikalist“, 1. Jg. (1919), Nr. 8. Die Haltung der FAUD gegenüber der
Schlichtungsordnung ist formuliert in: „Der Syndikalist“, 4. Jg. (1922), Nr. 10,
Titelseite „Nieder mit der ‚Schlichtungsordnung’!“.
(3) Protokoll über die Verhandlungen vom 12. Kongreß der Freien Vereinigung
deutscher Gewerkschaften..., S. 81.
(4) Protokoll über die Verhandlungen vom 16. Kongress der Freien Arbeiter-Union
Deutschlands (A.-S.)..., S. 44.
(5) Vgl.: „Die Internationale“, 1. Jg. (1928), Nr. 12.
(6) Protokoll über die Verhandlungen des 18. Kongresses der FAUD..., S. 65.
(7) Ebd., S. 71. Zu Kollaboration von Zentralverbändlern mit Unternehmern kam es
allgemein gegen revolutionäre Organisationen, so auch gegen die Allgemeine
Arbeiter Union Deutschlands (AAU). Um einen Unternehmer zu zwingen, die
Mitglieder der AAU zu entlassen, gingen Zentralverbändler einer Großbäckerei in
einen zweistündigen Streik, bis der Unternehmer nachgab, wogegen die Entlassenen
vergebens den Rechtsweg bis hin zum Reichsgericht einschlugen, vgl.:
Reichsarbeitsblatt, Nr. 26 (1925), S. 286-288.
(8) Ebd., S. 77.
(9) Vgl.: Jürgen Mümken: Anarchosyndikalismus an der Fulda, S. 39. Der Kasseler
Willi Paul erklärte dazu: “...Der Arbeiter wird dadurch unselbständig gemacht,
seines Klassendenkens beraubt, nicht zum Denken erzogen, er sucht nicht mehr
nach neuen Mitteln und Methoden, um den Klassenkampf erfolgreich führen zu
können, und er wird bar jeder Initiative, mutlos, der eigenen Kraft nicht mehr
trauend, er wird degradiert zur Null, wartet auf seinen Führer, welche am
Verhandlungstisch bessere Lebensmöglichkeiten für ihn schaffen soll“, ebd. Die
zentrale Diskussion im „Syndikalist“ wurde in der zweiten Jahreshälfte 1928
geführt, wo Befürworter und Gegner sich noch die Waage hielten.
(10) Vgl.: Dersch Dr., Hermann u.a. (Hrsg.): Entscheidungen des
Reichsarbeitsgerichts und der Landesarbeitsgerichte, Bd. 9.
(11) Ebd.
(12) „Die Internationale“, 3. Jg. (1930), Nr. 9/ 10. Auch der Jurist Karl Korsch
nahm sich der Frage um die Tariffähigkeit revolutionärer/syndikalistischer
Organisationen in einer eigenen Schrift an, vgl.: Korsch, Karl, Dr. jur.: Um die
Tariffähigkeit. Eine Untersuchung über die heutigen Entwicklungstendenzen der
Gewerkschaftsbewegung, S. 13 ff. Dagegen sprach sich Dr. Wilhelm Herschel,
Professor am Staatlichen Berufspädagogischen Institut Köln, im Sinne des RAG
gegen die Tariffähigkeit revolutionärer/syndikalistischer Organisationen aus,
vgl: Dr. Wilhelm Herschel: Tariffähigkeit und Tarifmacht. Eine Skizze, S. 35.
Ebenso Prof. Dr. P. Oertmann (Göttingen) in: Juristische Wochenschrift, 60. Jg.
(1931), Heft 19, S. 1293 ff.
(13) zur kompletten Auseinandersetzung in der FAUD siehe Ergänzungsband.
(14) Protokoll über die Verhandlungen des 18. Kongresses der FAUD..., S. 70 f.
(15) Ebd., S. 71.
(16) „Der Syndikalist“, 13. Jg. (1932), Nr. 13.
(17) Frank Havers: Die Freie Arbeiter- Union Deutschlands in Sömmerda/Thüringen
von 1919 bis 1933, Bochum 1997.
(18) Vgl.: Jenko, Jürgen: Die anarcho-syndikalistische Bewegung (FAUD) in
Dresden, S. 76 f.
Aus. FAU-Bremen (Hrsg.): Syndikalismus – Geschichte und Perspektiven, Bremen
2005
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