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Helmut Rüdiger
Rudolf Rocker und die jüdische Arbeiterbewegung
Rudolf Rocker, der während der zwanziger Jahre in Deutschland durch sein
Eintreten für den Anarchosyndikalismus bekannt wurde – dessen
Prinzipienerklärung von 1922 sein Werk ist – und in den letzten Jahrzehnten neue
anregende Beiträge zu den Problemen eines antitotalitären, freiheitlichen
Sozialismus geliefert hat, ist dabei, der Öffentlichkeit seine
Lebenserinnerungen vorzulegen. Leider geschieht dies nicht in deutscher Sprache;
der erste Teil des auf drei Bände berechneten Erinnerungswerkes erschien 1947 in
Buenos Aires unter dem Titel La Juventud de un Rebelde, Die Jugend eines
Rebellen, der zweite 1949 unter dem Titel En la borrasca – anos de destierro, Im
Sturm – Jahre der Verbannung, jeder im Umfang von über 500 Seiten, ins Spanische
übersetzt von dem unermüdlichen Santillan, der soeben den abschließenden dritten
Band zu übersetzen im Begriffe ist.
Im ersten Band schildert Rocker, ein Mainzer Kind, wie er, aus armen
Verhältnissen stammend, nach Jahren im Waisenhaus als Buchbinderlehrling mit der
Arbeiterbewegung und bald auch mit dem Anarchismus in Berührung kommt, dessen
Ideen ihn instinktiv ansprechen: die Forderung nach individueller Freiheit und
das Ideal menschlicher Solidarität kommen den Grundzügen im Charakter des jungen
Menschen entgegen, für den Wille zur Selbständigkeit und Respekt vor dem
Mitmenschen elementarste Bedürfnisse sind. Auf diesen Grundlagen entwickelt sich
Rockers freiheitlicher Sozialismus, dem er sein Leben lang treu geblieben ist
und den er durch immer neue Variation und Vertiefung ständig weiter ausgebildet
hat. Der erste Band der Rockerschen Erinnerungen, auf den wir hier nur im
Vorübergehen hinweisen können, vermittelt aufschlussreiche und anregende
Eindrücke aus der Frühzeit des deutschen Anarchismus; wir sehen den jungen
Rocker seine ersten Verbindungen mit der internationalen Bewegung knüpfen und
folgen ihm schließlich auf seinem Weg ins Exil, nachdem er als Agitator für
seine Ideen mit der Polizei in Konflikt geraten und von harter Strafe bedroht
ist.
Der zweite Band ist den Jahren der Emigration gewidmet, die für Rocker in London
zu einer langen Etappe zusammenhängender Tätigkeit in der jüdischen
Arbeiterbewegung führten, über die hier einiges berichtet sei.
Es ist reizvoll zu lesen, wie der junge Rocker im Alter von 25 Jahren zum ersten
Male Redakteur einer in jiddisch herauskomnmenden Zeitung wird – obwohl der
Mainzer Arbeiterjunge, der, wenn man die groteske Terminologie des
tausendjährigen Reiches anwenden darf, sozusagen ein Vollblutarier ist, damals
natürlich keine Silbe jiddisch verstand. Er war in London mit den deutschen
Emigranten des Communistischen Arbeiterbildungsvereins zusammengekommen, die in
guter Kameradschaft mit den anarchistischen Ostjuden lebten. Eine jüdische
Gruppe in Liverpool diskutierte eines Tages in Rockers Anwesenheit die
Wiederherausgabe einer früher erschienenen anarchistischen Zeitung. Sie Frage
war nur wer sie redigieren sollte. „Rocker natürlich“, hieß es, aber der
erklärte, dass dies infolge seiner Unkenntnis der Sprache unmöglich sei, worauf
ihm bedeutet wurde, dass er ruhig deutsch schreiben könne und andere seine
Arbeiten übersetzen würden. So wurde Rocker, für kurze Zeit Redakteur für Das
Freie Wort, und von da führte sein Weg zu der bedeutenderen Publikation des
Arbeiterfreund in London. Allmählich gewöhnte er sich an die neue Sprache, in
der er dann während zweier Jahrzehnte alle seine journalistischen und
schriftstellerischen Arbeiten verfasste; es gibt heute noch Werke Rockers, die
nicht in seine eigene Muttersprache übersetzt sind.
Während der letzten Jahrzehnte des vorigen Jahrhunderts und in den Jahren bis
zum Ausbruch des ersten Weltkrieges floß fast ununterbrochen ein Strom jüdischer
Auswanderer aus Polen, den baltischen Ländern und Russland nach Westen, und
London war in jener Zeit, wie Rocker schreibt, eine Art „clearing house“ für
diese Massenemigration, die teilweise nach anderen Ländern weiterging, teilweise
in England blieb. Diese Emigranten waren zum großen Teil unpolitisch, oft auch
religiös – die armen Juden flohen vor ihrem Elend und den ständig drohenden
Pogromen. Aber ein immer größer werdender Prozentsatz dieser jüdischen
Auswanderer waren doch bewusste Sozialisten, und der Anteil dieser politischen
Flüchtlinge wuchs im Zusammenhang mit den revolutionären Ereignissen in Russland
zu Beginn des neuen Jahrhunderts. Das einzige, was alle diese Juden vereinte,
war ihre jiddische Sprache – dieses frühmittelalterliche Deutsch, das im Laufe
der Jahrhunderte zahlreiche hebräische, romanische und slawische Elemente in
sich aufgenommen, eine vom späteren Hochdeutsch abweichende, selbständige
grammatische Entwicklung durchgemacht hat und mit hebräischen Lettern
geschrieben wird. Eine reiche und weitverzweigte Literatur hat sich in
jiddischer Sprache in der ganzen Welt entwickelt.
In den jüdisch-sozialistischen Kreisen Englands entfaltete nun Rocker eine lange
und segensreiche Tätigkeit. Sein Wirken am Arbeiterfreund in London begann 1898.
Schon seit den 70er Jahren war eine sozialistische Bewegung unter den Ostjuden
Londons am Werke. Während die jüdischen Revolutionäre in Russland im allgemeinen
nicht nur mit ihrer Religion und ihren Familien gebrochen, sondern überhaupt
jeden Kontakt mit spezifisch jüdischem Milieu verloren hatten, wurde in London
East End der Versuch gemacht, eine sozialistische Bewegung in den jüdischen
Arbeitermassen selbst aufzubauen, und der Versuch gelang. Schon 1876 wurde in
Whitechapel eine Vereinigung jüdischer Sozialisten gebildet. Die neuen
Bestrebungen stießen allerdings auf harten Widerstand bei den orthodoxen und
bürgerlichen Juden im Lande. The Jewish Chronicle, das Organ dieser Kreise,
führte einen heftigen Kampf gegen die „ausländischen Nihilisten“, die eine
jüdische Arbeiterbewegung zu bilden versuchten. In London wurde die
publizistische Tätigkeit der neuen Bewegung eingeleitet mit einem Blatt unter
dem Titel Poilischer Jidel, dem später (1885) der Arbeiterfreund folgte. Die
Herausgeber dieses neuen Blattes standen dem Anarchismus nahe, aber ließen alle
Tendenzen zum Ausdruck kommen. Die Ereignisse in Chicago weckten stärkeres
Interesse für den Anarchismus. Umso heftiger wurde nun auch die Kampagne des
jüdischen Bürgertums; in Jewish Chronicle wurde der Arbeiterfreund als „ein
Fleck auf dem guten jüdischen Namen“ bezeichnet In jeder Nummer der Zeitung
erschien die Parole: „Arbeiter, tu Deine Pflicht und verbreite den
Arbeiterfreund!“ Der bekannte jüdische Bankier Montague brachte es jedoch einmal
fertig, den Drucker der Zeitung zu bestechen, sodaß das Blatt eines Tages mit
folgender veränderter Parole erschien: „Arbeiter, tu Deine Pflicht und zerstöre
(1) den Arbeiterfreund!“ Aber schon 1887 hatte der Arbeiterfreund eine eigene
Druckerei.
Gruppen von Lesern des Blattes bildeten sich bald in verschiedenen englischen
Städten, aber auch im Ausland, so in Paris und New York. S. Janowsky, der von
der in New York erscheinenden jiddischen Arbeiterstimme nach England kam, war
ein Anhänger der Ideen Kropotkins und setzte sich auch für die Bildung jüdischer
Gewerkschaften ein, da den Juden als Ausländern der Weg zu den Trades Unions
verschlossen war. Der Arbeiterfreund leitete nun einen heftigen Kampf gegen das
sogenannte „sweating system“ ein, durch das die ostjüdischen Schneider
rücksichtslos ausgebeutet wurden. In dieser Periode stieß der junge Rocker zu
den Londoner Juden, die ihn, ohne das geringste nationale Ressentiment, als
Kameraden aufnahmen und schätzten – auch wenn er in diesem Wirkungskreis als ein
recht seltsames Phänomen betrachtet wurde, so z.B. von Emma Goldmann, die 1899
England besuchte und seitdem einer der besten Freunde Rockers war.
Der Arbeiterfreund machte verschiedene Krisen durch und wurde sogar
vorübergehend eingestellt, und an seiner Stelle kam inzwischen die literarisch
betonte Zeitschrift Germinal heraus, die später allmonatlich neben dem
erweiterten Arbeiterfreund erschien. Außerdem wurde eine immer umfangreichere
Verlagstätigkeit in jiddischer Sprache entfaltet, all dies unter Leitung
Rockers. Wie weit sich damals Rockers Aktionsradius in jüdischen Kreisen
erstreckte, zeigt z.B. das sehr lesenswerte Erinnerungsbuch des deutschen
Schauspielers Alexander Granach (2), der berichtet, wie er sich, von galizischen
jüdischen Eltern abstammend, um die Jahrhundertwende einer Berliner jüdischen
Gruppe anschloß, die „Arbeiterfreund“ hieß „nach der damals in London
erscheinenden Zeitung gleichen Namens, die vom rheinländischen Nichtjuden Rudolf
Rocker in jiddischer Sprache herausgegeben wurde“. Um den Ideen des
Arbeiterfreund Gehör zu verschaffen „und die Idee des Nichtjuden Rocker unter
das jüdische Volk zu bringen“ (wie Granach schriebt), wurde ein Theaterverein
gegründet, und Rockers literarische Arbeiten und Übersetzungen wurden zu einer
wichtigen Inspirationsquelle für den kommenden bedeutenden Schauspieler.
Der „Nichtjude“ als Redakteur und Verleger jüdischer Publikationen spielte
natürlich auch in London eine oft eigenartige Rolle, und belustigt erzählt er
selbst eine Reihe origineller Erlebnisse. Als er selbst noch nicht im Ghetto
lebte, kam es vor, dass Straßenjungens „Jude“ und „Mörder Christi“ hinter ihm
dreinriefen, während die orthodoxen Juden im Ghetto tief empört über ihn waren,
wenn er zusammen mit seinen jüdischen Freunden auch am Sabbat lebhafte Tätigkeit
entfaltete oder wenn er am Feiertage pfeiferauchend durch die Straßen ging.
1902 fand in Whitechapel eine Konferenz statt, auf der eine Anarchistische
Föderation jüdischer Gruppen gegründet wurde, als deren Organ der Arbeiterfreund
von 1903 an herauskam. Zu jener Zeit war Rocker schon der beliebteste Redner der
jiddischen Bewegung in England – er trat als Agitator und Organisator in
Streikversammlungen auf und entfaltete außerdem eine immer umfangreicher
werdende Tätigkeit mit seinen Vorträgen über literarische Themen. Er berichtet,
wie diese Vorträge in ganz kleinen Kreisen begannen, aber bald Hunderte von
Hörern sammelten, die auf seine Darlegungen über Ibsen, Björnsen, Hamsun,
Strindberg, Zola, Blasco Ibanez, Hauptmann, Maeterlink, Wilde, Multatuli, Gorki
u.a. lauschten. Im Laufe der Jahre führte Rocker auf diese Weise Tausende von
Ostjuden in die europäische Kulturwelt ein. Er berichtet in seinen Erinnerungen
über ergreifende Erlebnisse während dieser Zeit, die er als eine der
fruchtbarsten seines Lebens betrachtet. Rocker schreibt in diesem Zusammenhang:
„Während all dieser langen, kampferfüllten Jahre habe ich niemals auch nur einen
einzigen Gedanken gehabt, den ich nicht meinen jüdischen Freunden hätte
mitteilen können. Das ganze unverantwortliche Geschwätz von unüberwindlichen
Gegensätzen zwischen westlichen und östlichen Rassen, zwischen Ariern und
Semiten hat nicht den geringsten Wert. Bei den Juden fand ich nicht mehr
geheimnisvolle und erklärliche Züge als bei allen anderen Völkern, mit denen ich
in Kontakt gekommen bin. Ich bin deswegen kein Judenfreund, wie man mich oft
genannt hat, denn ich sympathisiere nicht mit allen Juden, genauso wie ich nicht
alle Deutschen, Franzosen oder Amerikaner liebe. Es wäre schwer für mich einen
Goebbels, Göring oder Streicher zu lieben nur deshalb, weil sie im selben Land
wie ich zur Welt gekommnen sind; im Gegenteil, ich habe mich oft geschämt,
demselben Volke anzugehören wie diese Kannibalen.“ Hier kann aber hinzugefügt
werden – was Rocker selbst bei anderen Gelegenheiten oft betont hat – dass er
anderseits wegen Goebbels, Streicher & Co. niemals seine Verbundenheit mit dem
deutschen Volk und deutscher Kultur verleugnet hat, die ihm wie alles
Menschliche lieb und teuer sind.
Die ostjüdische Bewegung in London, die ein so tiefes und dauerndes kulturelles
Interesse entwickelte, musste gleichzeitig einen harten Kampf ums Dasein führen.
Die soziale Aktivität der Bewegung vertiefte sich vor allem nach den furchtbaren
Pogromen von Kischinew im Jahre 1903. Im Hyde Park fand zu dieser Zeit eine
öffentliche Kundgebung statt, die 25.000 Juden auf die Beine brachte.
Organisatoren waren die jüdische anarchistische Föderation, die jüdischen
Sozialrevolutionäre und Sozialdemokraten und die polnische Sozialdemokratische
Partei. Während die bürgerlichen Juden Gegner solcher Demonstrationen waren,
löste das Ereignis eine schnell aufsteigende Entwicklung der 1901 in East End
gegründeten jüdischen Gewerkschaften aus. Im April 1904 fand eine anarchistische
Massenversammlung statt, in der 5.000 jüdische Arbeiter ihren Willen zum Kampf
gegen das sweating system zum Ausdruck brachten; unter den Rednern befanden sich
die bekanntesten nichtjüdischen anarchistischen Propagandisten der Zeit: außer
Rocker z.B. der Spanier Tarrida del Marmol, der Engländer Mainwarring, der
Italiener Malatesta; Kropotkin, der erkrankt war, hatte eine schriftliche
Botschaft gesandt. Die revolutionären Ereignisse in Russland gaben der Bewegung
neue Impulse – Tolstoj schleuderte seinen feierlichen Protest gegen den Krieg,
wurde aus der Kirche ausgestoßen, die Meuterei auf dem Panzerschiff Potemkin
brach aus und der Führer dieser Rebellion, Matuschenkow, kam nach London, wo er
sich Rockers Kreis anschloß. Von der Literatur, die die jüdische Bewegung zu
jener Zeit in London herausgab, ging ein großer Teil illegal nach Russland.
Rockers Tätigkeit als Redner führte ihn in immer weitere Kreise; 1913 unternahm
er eine Reise nach Kanada. Die jüdische Bewegung bekam nun auch immer besseren
Kontakt mit der englischen Arbeiterbewegung; anlässlich eines großen britischen
Hafen- und Transportarbeiterstreiks nahmen die Juden in East End Hunderte
englische Arbeiterkinder auf.
Die große Feuerprobe der Bewegung in East End kam 1912, als 13.000 Juden in den
Streik traten. Der Kampf begann als Solidaritätsaktion für streikende
Konfektionsarbeiter in Westend, von denen nur ein Teil Juden waren. Der nun
ausbrechende Kampf in East End nahm gewaltige Proportionen an; Rocker sprach auf
Hunderten von Meetings. Der Arbeiterfreund kam während des Streiks täglich mit
vier Seiten heraus. Der große Streik brachte den jüdischen Arbeitern
beträchtliche Erfolge und der ganzen Bewegung einen großen moralischen
Aufschwung.
Dafür legt eine kleine Episode Zeugnis ab, die Rudolf Rocker in seinem zweiten
Erinnerungsband erzählt. Eines Tages, eine Zeit nach dem großen Streik,
spazierte er mit seiner guten Lebenskameraden Milly durch die Straßen des
Ghettos, als eine unbekannte junge Frau, die vor der Tür eines Hauses saß, sich
erhob und zu Rocker sagte: „Möge Gott ihnen hundert Jahre schenken! Sie haben
meinen Kindern geholfen als die Not am größten war. Sie sind kein Jude, aber Sie
sind ein Mensch, ein Mensch!“
Noch vieles andere über Rockers Tätigkeit in der jüdischen Arbeiterbewegung wäre
berichtenswert, und anderes dazu, denn die beiden vorliegenden Erinnerungsbände
sind unerhört reich an Schilderungen von historischem Wert – und überreich an
Zeugnissen einer warmen, aktiven beispielhaften Humanität. Hier ist ein
Menschenleben dargestellt., das diesen Namen verdient wie selten eines. Hat man
Rockers zwei Erinnerungsbände gelesen, so glaubt man noch lange die Stimme des
alten Juden zu hören: „Ein Mensch!“ Ja, aus diesen Seiten tritt vor allem ein
reiner Mensch hervor, der stets nur an das Gute in seinem Nächsten appellierte,
unendlich viel Gutes tat und trotz seines hohen Alters in diesem Geiste immer
noch wirkt.
1 Hier und bei anderen Zitaten handelt es sich um Rückübersetzungen aus dem
Spanischen.
2. Da geht ein Mensch, Autobiographischer Roman von Alexander Granach, Neuer
Verlag, Stockholm (deutsch).“
Aus: „Die freie Gesellschaft“, Nr. 22/1951
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