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„Ja, ich kämpfte“ - Biographien zu Milly Witkop- Rocker, Isak
Aufseher, Carl Einstein und anderen im Sammelband erschienen
Auf ihrer Suche nach jüdischen Spuren in der weltweiten anarchistischen Bewegung
führen Werner Portmann und Siegbert Wolf seit einigen Jahren so manche
Persönlichkeit ans Licht einer interessierten Leserschaft. Im 2006 vorgelegten
Buch „Ja, ich kämpfte“ sind es sechs gut recherchierte Kurzbiographien, darunter
Künstler, Spanienkämpfer, Anarcho-SyndikalistInnen – aufschlußreiche Beiträge
zur Syndikalismusforschung. Das betrifft besonders auf Isak Aufseher und Milly
Witkop-Rocker zu. Zu letzterer ist bislang bis auf die Aufzeichnungen von Rudolf
Rocker (“Milly Witkop-Rocker1877-1955. Zum Gedächtnis“, in IISG Rocker Papers
19) noch nichts dergleichen aufgezeichnet worden. Hier liegt nun mit 65 Seiten
die erste Veröffentlichung vor. Die Biographien wurden über eine große Fülle von
Quellenmaterial rekonstruiert. Wenngleich einiges lückenhaft bleibt, werden
vorsichtige Vermutungen angestellt. Die Texte alternativ dazu nicht erscheinen
zulassen, wäre in der Tat bedauerlich gewesen. Und ein lebendiges Bild vom Leben
und den Umständen können wir uns hier allemal machen. Zu Isak Aufseher gibt es
spannende Details über die „Gruppe Deutsche Anarcho-Syndikalisten“ (DAS) im
Spanischen Krieg. Aufseher hatte dort eine zentrale Funktion inne. Carl
Einstein, der Schriftsteller, über den schon so manche Publikation erschien,
befand sich um diese Zeit ebenfalls in Spanien an der Seite der CNT. Beide
Biographien sind auch deshalb so spannend, weil sie mit dem Ende der spanischen
Revolution nicht abbrechen, sondern ihr Leben in der folgenden politischen
Tristesse weiterverfolgt wird. Einstein beging Selbstmord, Aufseher kämpfte auf
seine Art weiter.
Weitere Kurzbiographien behandeln die Künstler und Schriftsteller Jack Bilbo
(geboren als Hugo Cyrill Kulp Baruch in Berlin) und den in Wien politisierten
Robert Bodanzky, sowie die Schweizer Aktivistin Cilla Itschner-Stamm. Alle drei
waren zu Beginn des letzten Jahrhunderts politisch und sozial tätig. Letztere
verbrachte die letzten 32 Jahre ihres Lebens in einer „Irrenanstalt“, nachdem
sie vergeblich bemüht war, Einkünfte, Kinder und Politik unter einen Hut zu
bringen.
Nochmal zurück zu Milly Witkop-Rocker. Ihre Herkunft und ihre Familie (sie hatte
mehrere Schwestern, die alle etwas mit der anarchistischen Bewegung zu tun
hatten, teils sehr aktiv in ihr waren) sind anschaulich beschrieben, ihre frühe
Flucht aus der Ukraine in das Elend des Londoner East End, und die schwierigen
Bedingungen dort. Milly war schon in der Bewegung aktiv, als sie ihren ebenfalls
in London weilenden jahrzehntelangen Lebensgefährten und Kampfgenossen Rudolf
Rocker kennen lernte. Diesen heiratete sie nie. Beide verzichteten dafür sogar
auf eine gemeinsame Auswanderung in die USA, aber bis zu ihrem Tod im Jahre 1955
blieben sie sich verbunden. Über ihre Motivation, die staatliche sanktionierte
bürgerliche Ehe abzulehnen und ihre konsequente Haltung dazu gibt das Kapitel
lebendige Anschauung mit sehr lesenswerten Originalzitaten. Sie lebte im Beruf
als Schneiderin, er als Buchbinder. Dazu kamen zeitweilig die Einnahmen aus der
Schreiber- und Redaktionstätigkeit für verschiedene Zeitungen der
Arbeiterklasse, besonders der jüdischen „Der Arbeyter Fraynd“ und „Germinal“.
Sie überdauerten in den Jahren des Ersten Weltkriegs in aufopfernder
gegenseitiger Unterstützung ihre Internierung als „feindliche Ausländer“ in
England - als bekannte Antimilitaristen. Beide gingen nach dem Krieg nach Berlin
und organisierten dort die anarcho-syndikalistische Bewegung - die FAUD (1919)
und die IAA (1922) - neu, Milly spielte dabei eine der Hauptrollen im
Syndikalistischen Frauenbund, für den sie das Programm schrieb mit dem Titel:
„Was will der Syndikalistische Frauenbund?“. Vor dem Nazifaschismus flohen beide
in die USA und lebten dort in Crompond nahe New York. Ihre Beziehung beschrieb
Rudolf Rocker mit folgenden charakteristischen Worten, wie sie inniger wohl kaum
zu Papier gebracht werden könnten:
„Es gab in unserem Leben gewiss etwas, das sich schwer beschreiben lässt, einen
verborgenen Tempel, zu dessen stillen Pforten nur wir den Schlüssel hatten. (…)
Wenn zwei Menschen, die das Leben so glücklich zusammenführte, so viele Jahre
vereint sind, so verwachsen sie allmählich miteinander. Das war auch bei uns der
Fall. Wo immer der Name des einen genannte wurde, klang der Name des anderen
mit. (…) Dass einmal die Stunde kommen musste, wenn der eine oder der andere von
uns zuerst Abschied nahmen musste, war unvermeidlich. Doch das ist nüchterne
Logik, die einem wehen Herzen nicht Balsam sein kann. Ich weiß nur, das mir mit
dieser wahrhaft großen Frau etwas genommen wurde, das keine Ewigkeit zurück
bringt.“ (…) Der Tod konnte sie von meiner Seite reißen, doch er kann nicht
verhindern, dass ihr seelenvolles Bild in meinem Herzen weiter lebt wie eine
freundliche Erinnerung an fruchtbare und köstliche Jahre, die mehr und mehr im
Sturm der Zeiten verrauschen und nicht wieder kommen.“
Problematisch ist der eingangs formulierte Anspruch der Autoren, Zusammenhänge
oder gar eine „produktive Synthese“ von Anarchismus und Judentum
herauszuarbeiten. Besonders wenn die Stoßrichtung auf einen „(anarchistischen)
Messianismus“ gelegt wird. Immer wieder müssen die Autoren zugeben, dass die
meisten der von ihnen beschriebenen AnarchistInnen mit Judentum oder einem
Gottesglauben nichts zu tun gehabt oder sich davon abgewendet haben. Betont wird
lediglich ihre Herkunft, ihr jüdisches Umfeld (das sich meistens ebenso vom
Judentum abgewendet hatte), was eine gewisse Bedeutung für ihr Wirken als
AnarchistInnen gehabt habe, besonders über im Judentum und im Anarchismus
gleichermaßen verbindende gemeinsame Wertvorstellungen. Portmann und Wolf sind
bemüht, gerade diese Bezugspunkte besonders herauszuarbeiten. Zum einen wirkt
diese Schwerpunktsetzung mitunter verzerrend – gerade bei den Erstbiographien.
Zum anderen wird eine Besonderheit jüdischer Kultur für den Anarchismus einfach
angenommen, ohne zu berücksichtigen, dass sich auch unter anderen Religionen
ähnliche Werte finden, welche genauso gut oder so wenig mit anarchistischen
Vorstellungen kompatibel sind. Denn auch das Christentum ist besonders Anfang
des letzten Jahrhunderts, aber auch heute noch zeitweilig stark mit dem
Anarchismus verknüpft worden, die sozialen Bewegungen der frühen Neuzeit waren
noch gänzlich im Christenglauben verfangen, beispielsweise bei Thomas Müntzer,
der noch bei FAUD, Rudolf Rocker hoch im Kurs stand. Aktuell beziehen sich nicht
wenige „Anarchisten“ auf den Buddhismus. Es ist durchaus interessant, bestimmte
kulturelle Beziehungen von Religionen und den dazugehörigen Kulturen zum
Anarchismus zu untersuchen, den Anarchismus jedoch in gleicher Weise mit einer
Heilslehre verbinden zu wollen, diskreditiert sich von selber. Einen Index zum
Buch gibt’s es nur Online beim Verlag, dieser bezieht sich zudem leider nur auf
die Namen. Eine Literaturliste fehlt hingegen ganz.
H. für www.syndikalismusforschung.info
Werner Portmann/Siegbert Wolf: „Ja, ich kämpfte“. Von „Luftmenschen“ Kindern des
Schtetls und der Revolution. Biograpien radikaler Jüdinnen und Juden, Münster
2006, 314 Seiten, 19 Euro, 978-3897714526
Weitere Literatur von Portmann und Wolf:
Milly Witkop, Hertha Barwich, Aimee Köster u.a.: Der Syndikalistische
Frauenbund, (Hg.) Siegbert Wolf, Münster 2007
Werner Portmann: Die wilden Schafe. Max und Siegfried Nacht. Zwei radikale
jüdische Existenzen. Mit einem Vorwort von Siegbert Wolf, Münster 2008
In der jüdischen ArbeiterInnenbewegung engagierten sich viele junge
AnarchistInnen. Sozialisiert in einem religiösen Elternhaus, gehörten sie schon
bald zu den EnthusiastInnen einer revolutionären Utopie, die sich die Aufhebung
von Herrschaft und gesellschaftlichen Zwängen auf ihre Fahnen geschrieben
hatten. Zugleich repräsentierten sie einen sozialrevolutionären Radikalismus,
der mit seiner Verheißung einer Befreiung aller Juden und Jüdinnen wie auch der
gesamten Menschheit durchaus Parallelen im jüdischen Glauben aufwies.
Aus dem Inhalt:
Emanuel Hurwitz
Vorwort
Werner Portmann und Siegbert Wolf
Einleitung
Porträts:
Isak Aufseher (1905-1977).
Luftmensch und Spanienkämpfer
Jack Bilbo (1907-1967).
Schriftsteller, Maler, Galerist
Robert Bodanzky (1879-1923).
Librettist, Schriftsteller, Publizist
Carl Einstein (1885-1940).
Autor, Kunstkritiker, Spanienkämpfer
Cilla Itschner-Stamm (1887-1957).
Luftfrau, Anarchistin und Feministin
Milly Witkop-Rocker (1877-1955).
Anarchistin, Feministin, Autorin
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