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Biographie über Siegfried Nacht erschienen
„Wir Syndikalisten wollen die Anarchie, doch nicht im Reiche der Philosophie,
sondern auf der Erde, deshalb steigen wir von den metaphysischen Höhen des
anarchistischen Himmels hinab, auf die schmutzige Erde. Und deshalb (…) suchen
wir die Massen auf ein gemeinsames Ziel zu vereinigen, das ohne das Wort
unbedingt zur Anarchie führen muss.“ (Siegfried Nacht)
Die Person Siegfried Nacht (1878-1956 auch „Arnold Roller“) erlangte seine
Bedeutung für die internationale anarcho-syndikalistische Bewegung vor allem
über zwei Schriften, „Der soziale Generalstreik“ (1905) und „Die Direkte Aktion“
(1906), welche er vor gut 100 Jahren veröffentlichte. Sie gehörten fortan zum
Fundament dieser freiheitlich-emanzipatorischen Arbeiterschaft, und die Inhalte
flossen in ihre späteren Programmatiken mit ein. Nacht schien damit kometenhaft
auf der internationalen Bühne emporzusteigen, stieg jedoch genauso schnell
wieder ab und spielte über diese Schriften hinaus keine größere Rolle mehr. Zur
Bedeutung dieser Schriften, den Lebensweg und denjenigen seines jüngeren Bruders
Max Nacht (1881-1973) erfahren wir jetzt mehr durch die im April 2008 beim
Unrast-Verlag erschienene politische Biographie „Die wilden Schafe. Max und
Siegfried Nacht. Zwei radikale jüdische Existenzen“ von Werner Portmann. Der
Autor erschloss weit verstreutes Quellenmaterial zu einem knapp 150 Seiten
starken Buch mit fast 1.000 Fußnoten. Diese haben es tatsächlich in sich, denn
die Spurensuche ist wahrlich komplex, wie wohl bei kaum einer anderen kurzen
Biographie. Die Brüder Nacht waren Nomaden in politischer wie auch in
existenzieller Hinsicht.
Lebenswege
Aufgewachsen im galizischen Buczacz (130 Km von Lemberg/Polen), lebten und
agierten sie bald schon in ganz Europa, vor allem in Zürich, Wien, Paris, Berlin
und London, wurden des öfteren verhaftet und ausgewiesen, und landeten etliche
Zwischenstationen. Oft blieben sie nur für Monate oder wenige Jahre. Besonders
Siegfried Nacht genoss dabei viele internationale Kontakte und Freundschaften zu
Anarchisten und Anarcho-Syndikalisten, neben vielen anderen beispielsweise zu
Errico Malatesta, Fritz Brupbacher, Max Nettlau und Rudolf Rocker. Dabei zeigte
sich Siegfried ungeheuer rege, gründete Zeitungen, schloss sich vielen
anarchistischen Gruppen an und schrieb für viele internationale Zeitungen,
während er den Kontakt zu seinen Kampfgefährten in seiner galizischen Heimat
nicht abreißen ließ. Mit dem Abschwung der anarcho-syndikalistischen
Arbeiterbewegung in den 20/30-er Jahren und in der Not der Wirtschaftskrisen und
des Zweiten Weltkrieges machten beide Syndikalisten/Anarchisten kuriose
Wendungen durch: Max Nacht wurde Anhänger der Lehre von Jan Waclav Makhaiski,
welcher versuchte, anarchistische Elemente mit bolschewistischen zu vereinigen
und ließ sich in den 20-er Jahren für einige Jahre vom Sowjetkommunismus
begeistern, um sich schließlich wieder dem Anarchismus anzunähern, jedoch nicht
dem traditionellen, sondern demjenigen, wie er von der 68-er Generation wieder
aufgegriffen wurde, welchen Portmann in der Nähe der „Situationistischen
Internationale“ als „skeptizistischen Anarchismus“ verortet. Nicht weniger
nebulös waren die Kontakte von Siegfried, der, wenngleich er in den USA sein
Geld für sowjetkommunistische Organe als Korrespondent verdiente, aufgrund
seiner Treue zum Anarchismus mit diesen brach, jedoch danach im Sold des FBI
stand. Zunächst für eine Abteilung gegen die Achsenmächte während des Zweiten
Weltkriegs, dann aber auch anderweitig zur Bekämpfung kommunistischer
Organisationen. Laut Portmann sei er in hohem Alter Anfang der 50-er Jahre nicht
mehr in der Lage gewesen, die Situation zu überblicken, welche gekennzeichnet
war durch die aufkommende Mc. Carthy-Ära, in deren Folge alle fortschrittlichen
Kräfte, nicht nur totalitärkommunistische, einer hohen Repression unterlagen.
Weiter wertvolles
Werner Portmann bietet ausführlichere und sehr wertvolle Nebendarbietungen: Zur
Geschichte des Anarchismus in Galizien, der Lehren von Makhaïski, der
Zeitschrift „Der Weckruf“ aus Zürich und besonders zur schädlichen Rolle Rudolf
Großmanns („Pierre Ramus“) in der internationalen Bewegung, welcher auch von
August Kettenbach (später FAUD- Wiesbaden) Unterstützung erhielt, und der mit
Siegfried Nacht zuerst befreundet, dann verfeindet war. Viel zitiert wird dazu
noch aus der aufschlussreichen Korrespondenz mit Max Nettlau und Rudolf Rocker.
Besonders dieses Kapitel zu Ramus ist sehr wertvoll für die Forschung.
Kritik
Fixierung auf das Politische
Diese Ausarbeitung Portmanns ist gespickt mit Anhaltspunkten, die jedoch nur in
den wenigsten Punkten weiter ausgeführt werden. Die Biographien dieser beiden
Brüder waren zu schnellebig, das meiste huscht wie in einem Film am Leser
vorbei, dann kommt die nächste kurzweilige Zwischenstation in ihrem Leben.
Portmann wirft Fragen und Hintergründe auf, welche ein vielfaches an Umfang
benötigen würden, und die es auch wert wären! Das Buch bleibt bis auf wenige
Ausnahmen auf das politische Leben bezogen, ihr Werk (besonders die eingangs
erwähnten Schriften) und diverse Zeitungen werden ausführlicher dargestellt,
genauso wie ihre Beziehungen zu den Größen des Anarchismus. Wenig sagen die
verwendeten Quellen über das Privatleben aus. Angaben zur persönlichen
Entwicklung finden sich kaum. Eine Ausnahme bildet dabei die Anfangszeit in
Buczacz und die Rolle des Vaters Fabius Nacht als in Wien studierter
sozialistischer und angesehener Arzt in Buczacz, welche genauer beschrieben
wird. Seine Söhne wurden schon im jugendlichen Alter zu Sozialisten, zuerst
marxistisch inspiriert, sich dann dem Anarchismus zuwendend. Die beiden
Militanten bauten vor der Jahrhundertwende im Untergrund oppositionelle Gruppen
mit auf und gingen dann nach Wien, um als Elektriker auf dem Bau zu arbeiten
(Siegfried) und Jura zu studieren (Max). Dann folgen in der Biographie die
einzelnen Lebensstationen Schlag auf Schlag.
Zur jüdischen Frage
Ihr Bezug zum Judentum wird kontinuierlich gestreift, und herausgestellt, dass
sie sich schnell von jener Herkunft abwandten, jedoch weiterhin in
jüdischstämmigen Arbeiterkreisen verkehrten. Ansonsten wirkt dieser Bezug,
welcher im Titel, im Vorwort und auf den ersten Textseiten inkl. jüdischer
Fachbegriffe noch so betont wird, eher nebensächlich, und der Autor hebt in
aller Deutlichkeit ihre Distanz zum Judentum hervor. Unterbelichtet bleibt
entgegen der Ankündigungen auch, welchen Einfluß die jüdische Kultur auf den
Anarchismus (im Umfeld) der Brüder hatte, oder wo ausschlaggebende Parallelen
feststellbar sind. Deutlich wird nur, dass der Antisemitismus einen negativen
mal mehr, mal weniger bedeutenden Faktor in den Biographien darstellte.
Unschärfe
Neben den nervigen „[sic.]“ sind übertriebene Distanzierungsversuche des Autoren
zur Militanz der Brüder augenfällig. Seine Rechtfertigungen und Windungen in der
Beschreibung ihrer Aktivität wirken stellenweise wie eine Verteidigungsrede vor
Gericht, ähnlich etwa, als wolle er August Reinsdorf und Johann Most
nachträglich zu Blumenkindern erklären. Aus dem Mangel an Quellen heraus erklärt
Portmann die Nachts als nicht praktisch, sondern nur verbal militant. Dabei ist
es eine Binsenweisheit, dass militante Aktionen in aller Regel klandestin
erfolgen und auch bleiben, wenn sie nicht aufgedeckt werden. Folglich sollten
Fragen, ob die Brüder „Menschenleben auf dem Gewissen [sic.J] hatten“ oder
„mörderische [sic.J] Attentäter aktiv unterstützten“ offen bleiben ([sic.] von
mir J).
Schade ist neben der Frage nach Gewissen und mörderischen Attentätern der
generelle und oberflächliche bürgerlich-distanzierende (Unter-) ton, der die
Seelentiefe des Proletariats nur wenig zu erfassen vermag. Dabei betont der
Autor noch ganz deutlich den großen Erfolg gerade der militanten Schriften
Siegfried Nachts auf die Arbeiterschaft.
Etwas undifferenziert fällt die Einschätzung des Anarcho-Syndikalismus im
Allgemeinen in Bezug auf die Notwendigerachtung und Zusammenarbeit mit rein
anarchistischen Gruppen aus, da sich der Autor vor allem auf die Situation in
Spanien konzentriert.
Schluß
Auch wenn hier einige negative Kritik aufgeführt ist, so bleibt uns eine
lesenswerte Biographie, die so einiges erklärt, was bisher im Dunkeln blieb.
Darüber hinaus ist es überhaupt die erste deutschsprachige Biographie zu dieser
für die syndikalistische Bewegung so bedeutenden Person Siegfried Nacht! Und die
war fällig und aufgrund dieses komplexen Untersuchungsgegenstandes enorm
schwierig. Wer es ausführlicher mag, findet hier zahlreiche Anhaltspunkte für
eigene Forschungen. Bis auf weiteres können wir uns glücklich schätzen, dass
Werner Portmann diese wichtige Biographie in ordentlicher Recherche und gut
verständlich vorgelegt hat!
Werner Portmann: Die Wilden Schafe. Max und Siegfried Nacht. Zwei radikale
jüdische Existenzen, Unrast-Verlag, Münster 2008, 163 Seiten, 14 Euro, ISBN
978-3-89771-455-7
H. D. für www.syndikalismusforschung.info, September 2008
Verlags-Info: Die wilden Schafe - Max und
Siegfried Nacht. Zwei radikale, jüdische Existenzen.
Mit einem Vorwort von Siegbert Wolf
ISBN-13: 978-3-89771-455-7
Ausstattung: br., 176 Seiten
Preis: 14.00 Euro
Das Buch „Die wilden Schafe“ erinnert an zwei fast vergessene radikale jüdische
Aktivisten und Theoretiker:
Siegfried und Max Nacht, die sich später Stephen Naft und Max Nomad nannten,
gehören in der Geschichte der radikalen europäischen und amerikanisch/jüdischen
ArbeiterInnenbewegung - und nicht nur dort - zu den interessantesten Figuren.
Ihre Texte, teilweise unter Pseudonym geschrieben, sind Bestandteil eines
radikalen, gesellschaftskritischen Diskurses geblieben, der sich gegen jede Art
von Herrschaft und Totalitarismus wendet. Der Diskurs, der anhand ihrer
Schriften, z.B. über Formen der ‚Direkten Aktion‘, geführt wurde und wird,
findet aber ohne Kenntnis der eigentlichen Geschichte und der biographischen
Hintergründe der Verfasser statt. Denn bis heute sind ihre spannenden
Lebensgeschichten nicht aufgearbeitet worden. Das Buch ist ein erstmaliger
Versuch, die Biographien von Max Nomad und Siegfried Nacht nachzuzeichnen. Es
untersucht ihre Lebenswege, die von Buczacz, einem ostgalizischen Schtetl über
Zürich, Paris und London nach New York führten und zeigt ihren praktischen und
theoretischen Einfluss auf verschiedene Bewegungen.
Dabei wird dokumentiert, wie Siegfried Nacht im deutschen Sprachraum einen
wesentlichen Beitrag leistete zur Bekanntmachung und Verbreitung des
revolutionären Syndikalismus, inspiriert von der spanischen und französischen
syndikalistischen ArbeiterInnenbewegung. Ebenso wird die damit verbundene
antimilitaristische Propaganda in verschiedenen Ländern untersucht.
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