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Anarr:
Fisch ohne Wasser
Die Stellung der FAUD zu Betriebsräten, Kollektivverträgen und Streikkassen
Alle Jahre wieder? - Vor drei Jahren hatte H. Döhring an dieser Stelle
Grundlegendes zur Position der Freien Arbeiter Union Deutschlands (FAUD) zur
Betriebsratsfrage und zum Tarifvertragssystem geschrieben. In seinem Resümee
hatte der Autor Fragen formuliert, die bis heute einer Antwort harren. Über kurz
oder lang wird m.E. die heutige FAU allerdings nicht darum herum kommen, sich
ihnen zu stellen.
Betriebsräte und gewerkschaftliche Praxis
Wesentliche Anhaltspunkte zur Frage der Bedeutung und Stellung der FAUD zu den
Betriebsräten und Kollektivverträgen bis 1932 finden sich in der einschlägigen
Literatur.(1) Die wohl beste Arbeit zum Thema lieferte jedoch H. Döhring (FAU
Bremen), weshalb vieles an dieser Stelle nicht wiederholt werden muss.(2)
Dennoch gilt es, einige von ihm getroffenen Aussagen zu ergänzen.
Prinzipiell sind die Darlegungen des Autors bezüglich des Stellenwerts in der
innergewerkschaftlichen Diskussion, der unterschiedlichen Positionierung der
Gesamtorganisation im Laufe der Zeit und der Einordnung in die sich verändernden
Rahmenbedingungen der 20er und 30er Jahre des 20.Jahrhunderts zu unterstreichen.
Lediglich in der Frage, unter welchen Voraussetzungen die Ergebnisse der
einzelnen Betriebsratswahlen zustande kamen, gelange ich zu gänzlich anderen
Schlüssen.
Folgt man H. Döhrings Darstellung, schnitt die FAUD bei den Betriebsrätewahlen
im Ruhrbergbau zwischen 1921 und 1925 nur deshalb so schlecht ab, weil sie keine
Einigkeit in dieser Frage erzielen konnte und das Feld ihrer Abspaltung, der
„Union der Hand- und Kopfarbeiter“ (UdHuK), überließ, die mit deutlich besseren
Ergebnissen aufwarten konnte.(3) Er folgt damit der Darstellung von Hans Manfred
Bock und führt ganz richtig aus, dass die FAUD dort nur in wenigen Gebieten
antrat: im Gegensatz zur UdHuK in 9 der 20 Bezirke.(4) Gegen H. Döhrings
Einschätzung spricht, dass sich Syndikalisten vielerorts bereits mit der ersten
Wahl aufstellen ließen – trotz der starken Differenzen innerhalb der eigenen
Organisation und des Zwiespalts, in den sie sich selbst begaben.(5) Viel
bedeutender ist m.E. der Hinweis von Bock zur Anzahl der Kandidaturen. Auf dem
12.Kongreß der Freien Vereinigung deutscher Gewerkschaften (FVDG) im Jahre 1919
hatte die FVDG in einer Resolution dem Betriebsrätegesetz (6) eine klare Absage
erteilt, den Mitgliedern allerdings zugebilligt, dass unter Berücksichtigung der
jeweiligen Bedingungen vor Ort eine Beteiligung durchaus möglich sei, wenn
syndikalistische Grundsätze beachtet werden.(7) Dagegen erklärte der Delegierte
Nikolaus Mühlhausen, der immerhin 3.011 Mitglieder unter den Bergarbeitern in
Dortmund Land vertrat, „dass die Resolution nicht seinen Wünschen entspricht.
Auf der Bezirkskonferenz in Dortmund wurde festgelegt, dass wir uns nur dort an
Betriebsratswahlen beteiligen, wo wir die Mehrheit haben.“(8) Das wirft ein
gänzlich anderes Licht auf die Ergebnisse in den Folgejahren und muss
zwangsläufig zu anderen Einschätzungen führen. Betrachtet man die Umstände
genauer, wird schnell klar, dass viele Syndikalisten tatsächlich nur dort zu den
Betriebsratswahlen antraten, wo sie auch größere Teile der Belegschaft hinter
sich hatten. Beispielsweise im thüringischen Sömmerda, wo die FAUD 1924 acht von
elf Betriebsräten in der Firma Rheinmetall stellte. Die Gewerkschaft zählte hier
im März 1920 2.100 Mitglieder und in den Folgejahren bis 1926 relativ stabil
rund 800 Mitglieder. Ein Großteil davon arbeitete bei Rheinmetall. Sie
beteiligte sich hier seit Anfang der 20er Jahre an den Betriebsratswahlen.(9)
Ähnliches ist für den Bergbau, etwa das Aachener Revier, festzustellen: Auch
hier kandidierten die Syndikalisten und Unionisten von Anfang an und gewannen
aus dem Stand in jenen Betrieben eine starke Position, wo sie größeren Rückhalt
hatten. Für dieses Gebiet ist zumindest klar belegt, dass die intensive
Betriebsratsarbeit positive Auswirkungen auf die Stärkung der Gewerkschaft in
den Bergbaubetrieben hatte. Die Erfolge der FAUD auf den Zechen Adolf in
Merkstein-Streiffeld und Gouley in Würselen, wo sie 1920 ausschließlich
angetreten waren, „[…]hatten Auswirkungen auf die übrigen im Jahre 1920
gegründeten neuen Ortsgruppen der FAUD (S) im Wurmrevier. Es hatte für die
übrigen Gruppen den Anschein, dass die Erfolge in Streiffeld und Würselen zu
einem gewissen Teil auf deren Betriebsratsarbeit zurückgeführt werden
könne.“(10) Im Jahre 1922 erzielten die Unionisten und Syndikalisten im Aachener
Revier ihre größten Gewinne auf der Zeche Anna in Alsdorf. Sie traten hier
erstmals auf einer gemeinsamen Liste an – was die Zahlen von Bock zum
Abschneiden der FAUD bzw. der UdHuK insgesamt in einem anderen Licht erscheinen
lässt (11) - und verdoppelten dadurch fast ihre Stimmen- und Mandatszahl
gegenüber 1921, als beide getrennt kandidierten (1921: Union: 342 St./ 2
Mandate, FAUD(S): 414 St./2 Mandate; 1922: 1.285 St./7 Mandate). Damit hatten
sie mehr Stimmen als der dominierende Gewerkverein christlicher Bergarbeiter
Deutschlands (GcBD) und lagen mit der Anzahl der Mandate gleichauf.(12)
Keine Kandidatur ohne Basis
Auf dem 15.Kongreß im Jahre 1925 bezog die FAUD nicht nur zur grundsätzlichen
Frage einer Beteiligung, sondern auch dazu, ob bei beliebigen Betriebsratswahlen
Genossen kandidieren sollten, unmissverständlich Stellung: „[…]mögen diejenigen,
die durch eine Belegschaftsmehrheit dazu gedrängt werden, eine Beteiligung
verantworten; sie glauben, auf diesem Wege von der bloßen Negation zur Teilnahme
am Klassenkampf und zur Ausbreitung der Idee kommen zu können. Die Bewegung wird
solche Experimente ertragen, auch wenn die Form des gesetzlichen Betriebsrates
in solchem Falle nicht die geeignete ist. Die Ortsgruppe Leipzig spricht jedoch
ihre Meinung dahingehend aus, dass auf keinen Fall in Betrieben alleinstehende
Genossen durch Beteiligungen am Betriebsrat eine Belegschaftsgruppe schaffen
können. […] Die Frage der agitatorischen Wirkungsmöglichkeiten ist von der
ganzen Organisation so zu behandeln, wie es für einzelne notwendig ist, die
einer großen Masse syndikalistische Ideen näherzubringen haben; d.h.
agitatorische Wirkungsmöglichkeiten sind hier den vereinzelten nicht gegeben
durch Teilnahme an Institutionen, die große gegnerische Organisationen für sich
benutzen, sondern durch intensive Kleinarbeit.[…].“ Die Resolution der
Ortsgruppe Leipzig wurde in der Gesamtabstimmung mit allen gegen sechs Stimmen
angenommen. Damit wurde erneut unterstrichen, dass wenn überhaupt, nur dort
Genossen antreten sollten, wo die FAUD bereits eine größere Verankerung in den
Betrieben hatte, und dass sie die Wirkungsmöglichkeiten einzelner Mitglieder als
Betriebsräte im syndikalistischen Sinne unter den Belegschaften als gering
erachtete.(13)
Revolutionäre Gymnastik
Als Gesamtorganisation hat die FAUD bis 1925 einen Spagat vollzogen: prinzipiell
wurde das Betriebsrätegesetz von Anfang an als reformistisch abgelehnt,
praktisch hat sie aber als Gesamtorganisation zu jeder Zeit eine Beteiligung
ihrer Mitglieder geduldet, später sogar offen toleriert. Lange Zeit tat sie sich
schwer damit, sich klar für eine Teilnahme am Betriebsrätesystem auszusprechen.
Dieser Schritt erfolgte erst 1930. Es ist naheliegend, dass schon früh große
Teile der Mitgliedschaft vollendete Tatsachen schufen, weil sie die Position der
Gesamtorganisation darüber als „weltfremd“ erlebten. Dennoch muss der FAUD
zugute gehalten werden, dass sie im Konfliktfall die Autonomie der Ortsgruppen
höher bewertete als ideologisch- taktische Handlungsanweisungen. Keine
Ortsgruppe wurde wegen der Beteiligung an Betriebsratswahlen ausgeschlossen,
auch wenn das vereinzelt gefordert wurde.
Die Position, die die FAU seit 1977 zu den Betriebsräten einnimmt, hat sich
dagegen nie grundlegend geändert. Auch in den 70er, 80er, 90er und 2000er Jahren
flammten immer wieder Diskussionen um die Frage auf. In der
„Prinzipienerklärung“ von 1989/90 heißt es zur Stellung der FAU zu den
Betriebsräten bis heute: „Neben der Wahrnehmung unserer rein betrieblichen
Belange sehen wir diese Strukturen mittelfristig als Gegenmacht zu den
sozialpartnerschaftlichen Gewerkschaften und den, dem Unternehmenswohl
verpflichteten, Betriebsräten. Da die offiziellen Betriebsräte als
parlamentarisch aufgebaute Instanzen die grundsätzlichen Interessen der
ArbeiterInnen nicht durchsetzen können (dazu sind sie nicht geschaffen worden),
lehnen wir diese ab.“(14) An der Rolle der Betriebsräte hat sich sicherlich seit
dem Inkrafttreten des Betriebsrätegesetzes 1920 nichts geändert; darüber sollte
man sich keinerlei Illusionen hingeben. In kaum einer Frage haben Betriebsräte
tatsächlich etwas (mit) zu entscheiden, auch wenn die zentralistischen
Gewerkschaften und gewählten BetriebsrätInnen selbst etwas anderes behaupten und
die Arbeitgeber immer so tun, als stimme das. Viele, auch ich, sehen in den
Betriebsräten nichts anderes als eine Instanz zur Befriedung und Kontrolle der
Beschäftigten, eine Art Institution des Co-Managements. Das bewertete die FAUD,
folgt man den Diskussionen jener Zeit, größtenteils nicht anders. Im Gegensatz
zur FAU sah sie darin aber immerhin ein taktisches Mittel ihrer Betriebsarbeit,
nicht mehr, aber auch nicht weniger. Interessant sind die Vorschläge H. Döhrings
allemal, der nicht nur ein eindeutiges Bekenntnis für oder gegen Betriebsräte
fordert, sondern auch mögliche Vorschläge unterbreitet: Eine Rückkopplung und
damit Kontrolle der Betriebsräte über die Ortsgruppen oder Föderationen. V.a.
aber wirbt er immer wieder für Toleranz, auch unterschiedliche Ansätze
zuzulassen.
Zur Frage der Tarifverträge
In einem weiteren Beitrag hatte H. Döhring die Wandlung der FAUD zur Frage der
Tarifverträge dargelegt, von ihrer kategorischen Ablehnung bis hin zur offenen
Befürwortung und zum Abschluss derselben seit Ende der 20er, Anfang der 30er
Jahre durch nicht unbedeutende Teile der Organisation.
Im Jahre 1928 veröffentlichte Augustin Souchy mehrere Artikel in der
„Internationale“, dem Theorieorgan der FAUD, zur Stellung der Syndikalisten zu
Tarifverträgen. Vorausgegangen war dem eine Umfrage in der IAA über die
„Einstellung der einzelnen syndikalistischen Landesorganisationen zu den
Kollektivverträgen.“(15) Dabei ergaben sich erstaunliche Übereinstimmungen unter
den syndikalistischen Organisationen in Deutschland, Holland, Italien und
Schweden. Kurz zusammengefasst: Favorisiert wurden Verträge mit sehr kurzen
Laufzeiten, um sich flexibel auf verändernde Situationen einstellen zu können.
Das staatliche Schlichtungswesen wurde konsequent abgelehnt.(16) „Haben sie die
Macht und allein zu bestimmen, dann lehnen sie Kollektivverträge für bestimmte
Zeit mit festen Bindungen ab. Ist ihre organisatorische Macht nicht ausreichend,
dann versuchen sie das herauszuschlagen, was im Bereich der Möglichkeit liegt
unter Beibehaltung ihres grundsätzlichen Standpunktes.
Der Arbeiterschaft kann nicht damit gedient sein, wenn ihr revolutionärer Flügel
es dem gemäßigten vollständig überlässt, nach Beendigung eines Kampfes die
formalen Abmachungen, in die die Ergebnisse des Kampfes gefasst werden, allein
zu treffen. […] Die Tatsache allein, dass eine Arbeitergewerkschaft nach einem
vorausgegangenen Kampfe mit den Unternehmern einen Vertrag abschließt, sagt noch
nicht viel; wichtiger ist die Frage, wie die Verträge beschaffen sind. Werden
durch einen Vertrag offensichtliche Verbesserungen, die durch einen Kampf
errungen wurden, festgelegt, und hat die Organisation auch die Möglichkeit und
Kraft, darüber zu wachen, dass diese Verbesserungen während der Vertragsperiode
beibehalten werden, dann kann kein revolutionärer Arbeiter etwas dagegen
einwenden. Man könnte allerdings sagen, dass ein Vertrag überhaupt nicht
notwendig sei, wenn die die Gewerkschaften jederzeit in der Lage sind, über die
Errungenschaften zu wachen. Das würde aber nur dann zutreffen, wenn der
Syndikalismus die Gesamtarbeiterschaft eines Landes hinter sich hätte. Solange
die Mehrzahl der Arbeiterschaft zentralgewerkschaftlich organisiert ist, werden
Verträge nicht zu umgehen sein.“(17) Fritz Linow schrieb dazu: “Trotzdem darf
nicht verkannt werden, dass der Kollektivvertrag als zwangsläufige Folge des
gewerkschaftlichen Zusammenschlusses ein bloßes Hilfsmittel im Kampf der
Arbeiter um die Beteiligung an den Erfolgen der Produktion ist. Und weiter darf
nicht einmal behauptet werden, dass es ein gutes, sicheres, unfehlbares
Hilfsmittel für den gewerkschaftlichen Klassenkampf der Arbeiter darstellt. Dem
Kollektivvertrag, den die Gewerkschaft abschließt, kann man schwerlich mit
himmelstürmenden Enthusiasmus gegenüberstehen. Er ist eine Kompromisslösung, die
sich aus den weitgesteckten Zielen und Forderungen der Arbeiter nach Aenderung
der wirtschaftlichen Grundlagen, des Charakters der Wirtschaft, ihres Wesens und
ihrer Eigenart ergibt. So wenig wie man sich für den Kollektivvertrag begeistern
kann, muß doch gesagt werden, dass er eine aus den Verhältnissen der
kapitalistischen Welt sich ergebende Konsequenz ist. Man kann diesen
Kollektivvertrag nicht von heute auf morgen beseitigen. Er wird überhaupt erst
mit der kapitalistischen Produktionsweise verschwinden, aber bis dahin ein
wesentlicher Bestandteil der Gewerkschaftspolitik sein.“(18)
Die Einrichtung von Streikkassen
Zentrale Streikkassen waren in der FAUD tabu; sie widersprachen dem eigenen
Prinzip, das auf freiwilliger Solidarität der Mitglieder basierte. Außerdem
misstrauten die Syndikalisten jeglicher Anhäufung von Geldern, um nicht der
Korrumpierung Vorschub zu leisten, wie es in den Zentralverbänden üblich
war.(19) In gewisser Weise setzte man sich mit dieser Einstellung natürlich
unter Druck und zwang sich – anders als bei den heutigen Zentralverbänden -
Streiks sehr entschlossen, kurz, aber heftig zu führen, um sich nicht selbst
„auszuhungern“. Jeder Ortsverein sollte zunächst aus eigenen Mitteln seine
Arbeitskämpfe bestreiten und dafür auch regelmäßig Beiträge von den Mitgliedern
erheben. Außerdem sollten sie Solidaritätsfonds einrichten, um anderen
Ortsvereinen sofort entsprechende Gelder zur Verfügung stellen zu können
(mindestens einen Stundenlohn pro Mitglied). Theoretisch konnte Ortsgruppen, die
keine Solidarität zeigten, obwohl sie dazu in der Lage gewesen wären, die
Unterstützung versagt werden; ein Ausschluss durch den Kongress war ebenfalls
möglich. Hierzu muss gesagt werden, dass es in manchen FAUD- Ortsvereinen oft
einfach an der Bereitschaft zur finanziellen Solidarität mangelte. Im Gegenzug
nahmen diese allerdings regelmäßig die Solidarität Ihrer GenossInnen in
Anspruch, was immer wieder zu heftigen Angriffen seitens der Geschäftskommission
und anderer Ortsvereine führte.
Bei Massen- oder Generalstreiks aus wirtschaftlichen oder politischen Gründen
wurde keine Unterstützung gewährt.
Grundsätzlich sollte jeder Ortsverein in der Lage sein, seinen Mitgliedern 14
Tage lang aus eigener Kraft Streikgelder zu zahlen. Gab das die finanzielle
Situation nicht her, sollten die Ortsvereine möglichst vorher Extrabeiträge
erheben und solche auch von den Mitgliedern einsammeln, die vom Streik nicht
betroffen waren. Die Unterstützung sollte auf keinen Fall den fünffachen
Wochenbeitrag pro Streiktag übersteigen. Richtete sich dieser laut
Streikresolution 1919 noch nach dem Beitrag, der mindestens drei Monate vor
Beginn des Streiks gezahlt wurde, orientierte er sich 1925 nur noch an dem, was
mindestens vier Wochen zuvor entrichtet wurde. Ab 1927 wurde dieser Passus
geändert, das Streikgeld reduziert. Es durfte fortan den dreieinhalbfachen
Wochenbeitrag pro Tag nicht übersteigen, der innerhalb eines Bezirks
durchschnittlich gezahlt wurde. Diese Regelung war beschlossen worden, da
Mitglieder mit geringem Einkommen bis dahin mitunter durch Extrabeiträge
Streikunterstützung an Mitglieder anderer Berufsgruppen mit weitaus höheren
Einkünften leisten mussten, was eine enorme Belastung bei sowieso niedrigen
Verdiensten bedeutete. Die dabei gezahlten Streikgelder lagen nicht selten über
den Arbeitsverdiensten der Unterstützenden! Noch bis 1930 wurde an den ersten
drei Tagen des Streiks oder der Aussperrung keine Unterstützung gewährt, danach
mit dem ersten. Ausnahmen wurden bis dahin nur gemacht, wenn Genossen im Streik
gekündigt wurde. In diesem Falle wurde die Unterstützung vom ersten Tag bis zum
Greifen der Erwerbslosenfürsorge gewährt. Streikunterstützung durfte nur denen
gezahlt werden, die mindestens drei Monate (13 Wochen) regelmäßig Beiträge
entrichtet hatten. Diese Regelung sollte verhindern, dass sich Leute nur während
der Arbeitskämpfe der FAUD anschlossen, um Streikgelder zu erhalten.(20)
1927 wechselte auch die Zuständigkeit in dieser Sache: Bisher waren die
Industrieföderationen dazu angehalten, die in ihr organisierten Ortsvereine zu
unterstützen. Die Geschäftskommission wurde tätig, wenn es um Solidarität mit
anderen Industrieföderationen oder Vereinigungen aller Berufe (VAB) ging. Nun
übernahmen die Arbeitsbörsen diese Aufgaben. Immer wieder hatte es Probleme
gegeben, da nur ein Drittel der Mitglieder der gesamten FAUD zu diesem Zeitpunkt
in Industrieföderationen erfasst war; die überwiegende Mehrheit war in den
Vereinigungen aller Berufe zusammengeschlossen. Der Weg folgte auch hier dem
föderalistischen Aufbau von unten nach oben: Erst wurden die Mittel des
Ortsvereins ausgeschöpft, dann die Ortsbörsen um Solidarität gebeten, die
wiederum die Kreis- und schließlich die Provinzialarbeitsbörse (PAB) ansprachen.
Nahmen die Kämpfe größere Ausmaße an, wandte sich die PAB an die
Geschäftskommission, die dann sämtliche Ortsvereine und Börsen der FAUD zu
Spenden aufrief. Die streikende Gewerkschaft wurde verpflichtet, fortan den
Arbeitsausschuß der Börse zu ihren Sitzungen hinzuzuziehen.(21) Auf die heutige
FAU übertragen ergäbe sich das Modell Ortsgruppe bzw. Syndikat/Lokalföderation,
dann die Region und schließlich die Gesamtorganisation. Nur haben heute in den
wenigsten Fällen Ortsgruppen eigens Streik- und Solidaritätsfonds eingerichtet.
Noch beruht die gegenseitige Unterstützung eher auf spontaner Solidarität. Die
Gefahr, damals wie heute: Bei langwierigen Streiks gerieten die FAUD-Genossen
immer wieder in Schwierigkeiten, da die knappen Löhne und die Erwerbslosigkeit
der Solidarität der ArbeiterInnen gewisse Grenzen setzte.(22) Damit GenossInnen
nicht zwangsläufig zu StreikbrecherInnen werden, muss man ihnen entsprechende
Überlebensstrategien bieten. Noch sind die Streiks, die die Gewerkschaften der
FAU führen oder denen sie sich anschließen (z.B. Öffentlicher Dienst) erste
Gehversuche. Dennoch zeichnet sich schon jetzt ab, dass wir sie nur gewinnen
können, wenn wir die entsprechenden Voraussetzungen schaffen. Oder wie soll
jemand überleben, der/die sich über Wochen im Ausstand befindet und damit ohne
Einkommen ist?
Fußnoten/Quellen:
(1) Angela Vogel: Der deutsche Anarcho-Syndikalismus. Genese und Theorie einer
vergessenen Bewegung. Karin Kramer Verlag Berlin, 1.Auflage 1977, S.189-218.
Ulrich Klan/ Dieter Nelles: „Es lebt noch eine Flamme“ - Rheinische
Anarcho-Syndikalisten/-innen in der Weimarer Republik und im Faschismus.
Trotzdem Verlag Grafenau, 2.überarbeitete Auflage 1990, S.116-146. Hartmut
Rübner: Freiheit und Brot. Die Freie Arbeiter-Union Deutschlands. Eine Studie
zur Geschichte des Anarchosyndikalismus. Archiv für Sozial- und
Kulturgeschichte, Bd.5. Libertad Verlag Berlin/Köln 1994, S.129-139, 159-167.
(2) Zwischen Revolution und Reform: Die Stellung der Freien Arbeiter Union
Deutschlands FAUD zum Tarifvertragssystem. In: „Direkte Aktion“, Nr.155 (Februar
2003). Und: Zwischen Reform und Revolution: Die Stellung der Freien Arbeiter
Union Deutschlands FAUD zur Betriebsratsfrage. In: „Direkte Aktion“, Nr.157
(Mai/Juni 2003). Beide Texte liegen jetzt überarbeitet und erweitert in einer
Broschüre vor: FAU-Bremen (Hg.): Syndikalismus- Geschichte und Perspektiven,
1.Auflage November 2005.
(3) FAU-Bremen (Hg.): Syndikalismus- Geschichte und Perspektiven, S.15
(4) Hans Manfred Bock: Anarchosyndikalismus in Deutschland. Eine Zwischenbilanz.
In: IWK, Nr.3, 1989, S.326, Fußnote 177
(5) Klaus Weberskirch: Anarcho-Syndikalisten an der Wurm. Ein fast vergessenes
Kapitel der Geschichte des Aachener Raumes nach dem Ersten Weltkrieg.
Heimatblätter des Kreises Aachen, 52.Jg. 1999, S.70
(6) Die Auseinandersetzungen zwischen Regierung, Nationalversammlung,
Arbeitgebern, Gewerkschaften und der Rätebewegung für, gegen und um die
Auswirkung einer gesetzlichen Verankerung der Betriebsräte währte vom Februar
1919 bis Anfang 1920. Das Gesetz war zum Zeitpunkt des Kongresses noch nicht in
Kraft getreten.
(7) Protokoll über die Verhandlungen vom 12.Kongreß der Freien Vereinigung
deutscher Gewerkschaften. Abgehalten am 27., 28., 29. und 30.Dezember 1919 zu
Berlin, in der Aula der Luisenstädtischen Oberrealschule, Dresdener Straße 113.
Verlag Fritz Kater, Berlin o 34, Kopernikusstr.25, S.87f. Und: FAU-Bremen (Hg.):
Syndikalismus- Geschichte und Perspektiven, S.14
(8) Protokoll über die Verhandlungen vom 12.Kongreß der Freien Vereinigung
deutscher Gewerkschaften…, S.88
(9) Dr.Annegret Schüle: Anarchosyndikalismus in Sömmerda. Blätter zur
Landeskunde Thüringen. (Hg.) Landeszentrale für politische Bildung Thüringen,
Erfurt 2004, S.2f., S.6
(10) Klaus Weberskirch: Anarcho-Syndikalisten an der Wurm…, S.71
(11) Weberskirch bemerkt zudem, dass im Nachhinein oft gar nicht mehr
auseinander zu halten war, welche der vielen Unionen und Syndikalisten sich
hinter den Unionslisten verbargen, da sie bei den Betriebsratswahlen nur unter
„Union“ antraten. Mitunter handelte es sich dabei auch um die FAUD(S). Auch das
macht die Zahlen bei Bock etc. anzweifelbar. Vgl.: Klaus Weberskirch:
Anarcho-Syndikalisten an der Wurm…, S.67f.
(12) wievor, S.72, 77
(13) Protokoll über die Verhandlungen vom 15.Kongreß der Freien Arbeiter-Union
Deutschlands (A.S.). Abgehalten am 10., 11., 12. und 13.April 1925 in Dresden.
Verlag „Der Syndikalist“, Fritz Kater, Berlin O34, Kopernikusstr.25, S.74f.
(14) FAU-IAA: Prinzipienerklärung der FAU/IAA, 1989/90. Syndikat-A.
Anarcho-syndikalistischer Medienvertrieb Moers, S.23
(15) Der Syndikalist, X.Jg., Nr.41, 13.Oktober 1928, S.4
(16) Die Internationale. Zeitschrift für die Revolutionäre Arbeiterbewegung,
Gesellschaftskritik und sozialistischen Neuaufbau. (Hg.) Freie Arbeiterunion
Deutschlands (Anarchosyndikalisten), Heft Nr.1, II.Jg., Berlin, November 1928,
Verlag „Der Syndikalist“, Berlin O34, Warschauer Str.62, S.3
(17) Die Internationale, Heft Nr.4, II.Jg., Berlin, Februar 1929, S.12f.
(18) Die Internationale, Heft Nr.5, II.Jg., Berlin, März 1929, S.15f.
(19) Vgl.: Karl Roche: Aus dem roten Sumpf oder Wie es in einem nicht ganz
kleinen Zentralverband hergeht. Verlag Fritz Kater Berlin 1909. Reprint 1990,
Von unten auf! Verlag Markus Heilck, Hamburg-Altona.
(20) Die FAUD hatte es diesen Leuten nach eigenen Angaben in dieser Hinsicht
einfacher gemacht als die Zentralverbände.
(21) Vgl: Protokoll über die Verhandlungen vom 12. Kongreß der Freien
Vereinigung deutscher Gewerkschaften…, S.8f.. Protokoll über die Verhandlungen
vom 15.Kongreß der Freien Arbeiter-Union Deutschlands (A.S.)…, S.12f.. Protokoll
über die Verhandlungen vom 16.Kongress der Freien Arbeiter-Union Deutschlands (A.-S.).
Abgehalten am 26., 27. und 28.Mai 1927 in Mannheim. Verlag „Der Syndikalist“,
Berlin O34, Warschauer Str.62, S.39ff.. Protokoll über die Verhandlungen des
18.Kongresses der Freien Arbeiter-Union Deutschlands (A.-S.). Abgehalten vom
29.Mai bis 1.Juni 1930 im „Atlantik“, Berlin-Gesundbrunnen. Verlag „Der
Syndikalist“, Reinhold Busch, Berlin 1930, S.10f.
(22) Klaus Weberskirch: Anarcho-Syndikalisten an der Wurm…, S.92
aus: FAU Bremen, Klassenkampf im Weltmaßstab. Aus der Reihe "Syndikalismus.
Geschichte und Perspektiven." Bremen, 2006
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