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Jenseits des Betroffenheitsgedusels

Die Geschichte der ASJ 1990-93 und der FAUD nach 1933 in Baden-Württemberg haben Martin Veith und Helge Döhring in zwei Teilen in dem Buch „Eine Revolution für die Anarchie“ zusammengebracht.

Um es gleich vorweg zu schicken: Das Buch von Martin Veith ist Erinnerung und Kampfansage – es ist Feuerwerk! Seine provokanten Einsichten werden Widerspruch hervorrufen, vor allem bei jenen, die sich der Straßengewalt von Neonazis zwar theoretisch nähern, den Erfahrungshorizont eines Alltags aus permanenter Bedrohung, Einschüchterung, Angst, Wut und Hass jedoch nicht kennen. Vielleicht können gerade deshalb AntifaschistInnen in den Ost-Bundesländern, einigen Regionen im Westen, vor allem aber MigrantInnen sich sehr viel eher mit dem Anliegen des Autoren identifizieren als diejenigen, die sich nur „betroffen“ fühlen. Sicher jedoch ist, dass dieses Buch von allen mit Gewinn gelesen werden kann, die eine antifaschistische Praxis aufweisen bzw. diese entwickeln wollen. Es reiht sich ein in die Tradition von Überlieferungen, die mit Truus Mengers „Im letzten Augenblick“ und dem auch hier mehrfach erwähnten „The 43 Group“ von Morris Beckman bisher ihresgleichen suchten. Nur schreibt der Autor nicht über die Widerstandsgeschichte vor mehr als 60 Jahren, sondern über die Jugendgeneration Anfang der 90er Jahre.

Authentische Schilderung

Veith zeichnet die Geschichte der Anarcho-Syndikalistischen Jugend (ASJ) im Stuttgarter Raum Anfang der 90’er als einer ihrer ehemaligen Aktivisten nach.

Immer schwingt jenes Lebensgefühl mit, das viele dieser Generation bis heute prägte. Der Autor widmet sich dem Thema auf eine äußerst persönliche Weise; vielleicht ist dies das Erfolgsrezept des Buches, da so Erlebtes unheimlich lebendig und aufmunternd beschrieben wird, eingebettet in die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen jener Zeit. Deutlich wird: Die Kämpfe der ASJ entwickelten sich aus ihrem sozialen Alltag heraus, waren direkte Impulse gegen die sie umgebende Wirklichkeit. Dabei konnte es sich um ihre Wohnsituation handeln, um Konfrontationen mit Neonazis, Autoritäten, Nationalismus und Rassismus, Krieg oder um ihre Ausbeutung im Betrieb. Die ASJ bot dabei keinen Raum für einen aufgesetzten ideologischen Habitus, sondern zeichnete sich vielmehr durch die persönliche Verwurzelung in den sozialen Kämpfen aus.

Mit Einigen Standpunkten des Autors in punkto Widerstand gegen Neonazis kann sicherlich nicht jede und jeder d'accord gehen, auch wenn vielen AntifaschistInnen die Problematik unter ganz bestimmten Bedingungen durchaus vertraut ist: Sie gewinnt rein „militärischen“ Charakter. Dass die ASJ viel differenzierter war, hat sie in der Praxis bewiesen. Die Trennung von rechten MitläuferInnen und hartem Kern, Gesprächsversuche, die Schaffung von Gegenöffentlichkeit, das Outen von Neonazis in ihrem sozialen Umfeld, das Vermeiden der Überhöhung von Bedrohungspotenzialen einzelner Nazi-Gruppen durch gründliche Recherche, einschließlich des Besuchs ihrer Versammlungen unter Tarnung bei hohem persönlichen Risiko, oder die passable Methode, sie der Lächerlichkeit preiszugeben, sind Dinge, die sich bis heute bewährt haben. Allerdings wird in dem Buch versäumt, angewandte Gegengewalt als ein aufgezwungenes Übel zu beschreiben, das sich nicht idealisieren lässt. Es bestand eben die Notwendigkeit, sich zu wehren oder anderen beizustehen, denn tätliche faschistische Angriffe waren gerade auch im Osten der Nachwendejahre alltäglich. Zurück blieb jedoch immer Katerstimmung, da derart nichts Positives vermittelt werden kann. In dem Buch fehlt hierbei die kritische Distanz, auch wenn das Verhältnis zur Gewalt als Taktisches beschrieben wird. Der Anarchokommunist Malatesta wird nicht umsonst zitiert.

Die Tradition des anarchosyndikalistischen Antifaschismus im Südwesten

Im zweiten Teil des Buches beschreibt Helge Döhring in gewohnt akribischer Manier die Widerstandstätigkeit illegaler FAUD-Kreise in Baden-Württemberg nach 1933, quasi in Anknüpfung an „Syndikalismus im Ländle“, das im gleichen Verlag erschienen ist. Prozesse, sog. „Schutzhaft“, Folter, Zusammenhalt, aber auch Misstrauen prägten diese Zeit. Nicht alle, die überlebt hatten, versuchten nach '45 einen Neuanfang. Den Unermüdlichen bot der Briefwechsel mit dem im Exil lebenden Rudolf Rocker Halt und Richtschnur. Döhring hat an dieser Stelle auch Interessantes über den Anarchisten Theodor Plivier zusammengetragen, das in dieser Form bisher unbekannt sein dürfte.

Fazit: Kaufen, lesen, weiter empfehlen! Womöglich die bislang wichtigste Veröffentlichung 2009.

Anarr

Erschienen in der Direkte Aktion Nr. 194, Juli/August 2009

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