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Rezensionen zum Buch von Helge Döhring: Syndikalismus im "Ländle"

 

Siehe die Info-Seite zum Buch

Rezension von Nante Götze in der direkten Aktion

Rezension von Sebastian Meyler im stattweb

Rezension von (sl) im Mitteilungsblatt des DOKUZ Oberer Kuhberg
Rezension von Ulrich Klemm in "Der Bürger im Staat"

 

Nante Götze: Buchbesprechung: Helge Döhring: „Syndikalismus im „Ländle“ – Die Freie Arbeiter-Union Deutschlands (FAUD) in Württemberg 1918 bis 1933“

Die sozialistische Arbeiterbewegung in Deutschland bestand seit der ideellen und organisatorischen Trennung von der Sozialdemokratie aus verschiedenen eigenständigen Strömungen. Die größte davon wuchs sich aus dem Spartakusbund zur Kommunistischen Partei aus. Das es zur gleichen Zeit eine revolutionäre Arbeiterbewegung in Form einer selbstorganisierten, klassenkämpferischen Gewerkschaft gab, ist dagegen kaum bekannt. Nun ist ein Buch erschienen, das sich in einer Lokalstudie dieser Gewerkschaft, der Freien Arbeiter Union Deutschlands (FAUD) annimmt und ihre Spuren, Aktivitäten und Personen in Württemberg zum Gegenstand hat.

Das 224 Seiten starke Werk besticht durch die fundierte Erarbeitung der Spuren dieser anarchosyndikalistischen Bewegung in Württemberg, zu deren geistigen Vätern unter anderem Rudolf Rocker und Peter Kropotkin zählten. In 11 Kapiteln wird den Spuren des organisierten Syndikalismus nachgegangen. Dabei werden die zentralen Fragestellungen erörtert, unter welchen Bedingungen die syndikalistische Bewegung sich entwickeln konnte und welche Faktoren sie an ihrer Entfaltung hinderten.

Die Syndikalisten entstanden aus den lokal organisierten Gewerkschaftsverbänden der „Lokalisten“. Im Jahr 1919 vereinigten sie sich mit weiteren unabhängigen Gewerkschaftsgruppen zur „Freien Arbeiter Union Deutschlands (FAUD – Syndikalisten)“.

Im Gegensatz zu den konkurrierenden Gewerkschaftszentralen, die von einem Vorstand angeleitet wurden, der auch die Kontrolle über Kämpfe und Aktionen ausübte, bestimmten in den syndikalistischen Ortsvereinen der FAUD die Arbeiter eigenständig über Streiks und weitere Kampfformen. Entscheidungen wurden an der Basis von den Mitgliedern getroffen. Das Ziel der Syndikalisten gibt die „Prinzipienerklärung des Syndikalismus“ wieder. So heißt es dort:“ Die Syndikalisten...sind prinzipielle Gegner jeder Monopolwirtschaft. Sie erstreben die Vergesellschaftung des Bodens, der Arbeitsinstrumente, der Rohstoffe und aller sozialen Reichtümer; die Reorganisation des gesamten Wirtschaftslebens auf der Basis des freien, d.h. des staatenlosen Kommunismus, der in der Devise: "jeder nach seinen Fähigkeiten, jeder nach, seinen Bedürfnissen!" seinen Ausdruck findet.“

In logischer Konsequenz dieses „Sozialismus von unten“ führte die Prinzipienerklärung deutlich aus, das die „Syndikalisten der Überzeugung sind, daß die Organisation einer sozialistischen Wirtschaftsordnung nicht durch Regierungsbeschlüsse und Dekrete geregelt werden kann, sondern nur durch den Zusammenschluß aller Kopf- und Handarbeiter in jedem besonderen Produktionszweige: durch die Übernahme der Verwaltung jedes einzelnen Betriebes durch die Produzenten selbst und zwar in der Form, daß die einzelnen Gruppen, Betriebe und Produktionszweige selbständige Glieder des allgemeinen Wirtschaftsorganismus sind, die auf Grund gegenseitiger und freier Vereinbarungen die Gesamtproduktion und die allgemeine Verteilung planmäßig gestalten im Interesse der Allgemeinheit.“

Damit standen sie auch im politischen Gegensatz und Kampf mit den autoritären Strömungen der Arbeiterbewegung, wie der SPD und der KPD. Die „Prinzipienerklärung“ sagt weiter: „Die Syndikalisten sind der Meinung, daß politische Parteien, welchem Ideenkreis sie auch angehören, niemals imstande sind, den sozialistischen Aufbau durchführen zu können, sondern daß diese Arbeit nur von den wirtschaftlichen Kampforganisationen der Arbeiter geleistet werden kann. Aus diesem Grunde erblicken sie in der Gewerkschaft keineswegs ein vorübergehendes Produkt der kapitalistischen Gesellschaft, sondern die Keimzelle der zukünftigen sozialistischen Wirtschaftsorganisation. In diesem Sinne erstreben die Syndikalisten schon heute eine Form der Organisation, die sie befähigen soll, ihrer großen historischen Mission und in derselben Zeit dem Kampfe für die täglichen Verbesserungen der Lohn- und Arbeitsverhältnisse gerecht zu werden.“

Zu ihren organisatorischen Höchstzeiten umfasste, die sich später als anarcho-syndikalistisch definierende Bewegung, über 150 000 Mitglieder, die z.B. auch einen überdurchschnittlichen Anteil der Kämpfer im Ruhrgebiet gegen den rechtsextremen Kapp-Putsch stellten.
Die FAUD in Württemberg

Ausgehend von der Beschreibung der Rahmenbedingungen für den Aufstieg des Syndikalismus zur Massenbewegung nach 1918, beschreibt der Bremer Historiker Helge Döhring die Demographische Entwicklung und Industrialisierung und befasst sich dann mit der Revolution 1918/19 in Württemberg sowie dem Generalstreik im „Ländle“ von 1920.

Kern der Arbeit sind aber zweifelsohne die detailliert herausgearbeiteten Aktivitäten der lokalen FAUD-Gruppen Württembergs. Helge Döhring hat hier Pionierarbeit geleistet, in dem er – nach einer kurzen Zusammenfassung des aktuellen Forschungsstands über den Syndikalismus und Anarchismus in Württemberg vor 1918 – auf die einzelnen württembergischen Ortsverbände eingeht. Dabei zeichnet er die jahrelange Existenz und Arbeit der Gruppen entsprechend der umfassend ausgeschöpften Quellenlage nach. Ein Schwerpunkt seiner Arbeit bildet dabei die FAUD in Stuttgart, die in ihrer „Arbeiterbörse“ sowohl die Föderationen der Transportarbeiter, Bauarbeiter, Metall- und Industriearbeiter als auch die „Vereinigung aller Berufe“ vereinte.

Detaillierte Beschreibungen finden sich auch zu weiteren Orten Württembergs. So konnte eine starke Aktivität der FAUD in Heilbronn nachgewiesen werden. Vor Ort bestanden anarcho-syndikalistische Gewerkschaftsföderationen der Bau- und Metallarbeiter, sowie eine „Vereinigung aller Berufe“, in der sich Lohnabhängige anderer Branchen organisierten. Über das deutsche Reich hinaus bekannte Anarchosyndikalisten hielten in Heilbronn Vorträge, unter ihnen der Sekretär der FAUD Geschäftskommission und spätere Spanienkämpfer Augustin Souchy sowie Rudolf Geist und Rudolf Rocker. Die Stadt Böckingen wird in der Untersuchung eigenständig behandelt, da Böckingen erst 1930 zu Heilbronn eingemeindet wurde. Hier existierte seit 1911 ein aktiver Verband syndikalistischer Arbeiter. Zum Heilbronner Emil Gerlach findet sich ein Porträt.

Auch unter dem Hohenstaufen, in Göppingen war die FAUD eine bekannte und aktive Kraft der Arbeiterbewegung. Neben der Wahrnehmung gewerkschaftlicher Aufgaben waren ihre Mitglieder in der anarcho-syndikalistischen Buch- und Kulturgemeinschaft „Gilde freiheitlicher Bücherfreunde“ aktiv, deren Kopf der Metallarbeiter Karl Dingler war. Über den weit über die Organisations- und Stadtgrenzen hinaus bekannten und geschätzten Dingler findet sich im Anhang ein Nachruf Helmut Rüdigers aus dem Jahre 1950.

Weitere Kapitel finden sich zu Dettenhausen, Eislingen, Eltingen, zu den heutigen Stuttgarter Stadtteilen Feuerbach und Gablenberg, zu Leonberg, Esslingen, Pliezhausen, Reutlingen, Ulm und Wendlingen. Die Stadt Tuttlingen nimmt bei der Untersuchung eine besondere Stellung ein. So führt der Verfasser über den Tuttlinger Ortsverein der FAUD aus: „Die FAUD Tuttlingen nahm in Württemberg nicht nur geographisch, sondern auch organisatorisch eine Sonderstellung ein...die lokale Organisierung verlief offensichtlich grundsätzlich in konspirativen Bahnen, wofür ... die über Jahre anhaltenden schweren Arbeitskämpfe und handfesten Auseinandersetzungen zwischen Arbeiterschaft und Unternehmen/Polizei sprechen.“ (S.165)

Eigenständiger Untersuchungsgegenstand ist auch die anarcho-syndikalistische und anarchistische Jugendbewegung Württembergs. Die verschiedenen Vorstellungen, nach denen die Jugend entweder in erster Linie eine Kulturbewegung sein sollte – inklusive Nacktkultur und individualistischer Betrachtungen des eigenen ich, oder aber eine proletarische, betriebliche Kampforganisation, entschieden die Befürworter des Klassenkampfes schließlich für sich. Aus ihren Reihen gingen dann auch mehrheitlich die anarcho-syndikalistischen Arbeiterwehren, die „Schwarzen Scharen“ hervor, die u.a. Veranstaltungen der Bewegung gegen Störungen durch Nazis und Parteikommunisten verteidigten.

Wie bereits beim Göppinger Beispiel angeführt, legten die schwäbischen Anarcho-Syndikalisten, bedingt auch durch eine beständige Marginalisierung, einen Schwerpunkt ihrer Tätigkeit in die Aufklärung durch kulturelle und bildende Aktivitäten. So finden sich im Buch detaillierte Beschreibungen über die „Gilde freiheitlicher Bücherfreunde“, sowie die „Gemeinschaft proletarischer Freidenker“ . Die geschlechtsspezifische Organisation der Frauen wird anhand des „Syndikalistischen Frauenbundes“ behandelt.

Einflüsse des organisierten Anarcho-Syndikalismus gab es in Württemberg darüber hinaus auch in anderen Bewegungen, welchen der Autor ebenfalls nachgegangen ist. So finden sich freiheitliche Spuren in Siedlungsprojekten und der Vagabundenbewegung. Dem Stuttgarter „Vagabundenkönig“ Gregor Gog ist ein Porträt gewidmet. Interessant ist auch die Abhandlung über den Begründer der Anthroposophie Rudolf Steiner zu lesen, der sich der revolutionären syndikalistischen Bewegung angebiedert hatte, von diesen aber einen Korb erhielt und sich dann vermögenderen Kreisen zuwandte. Sehr schön zu Lesen ist weiterhin das Kapitel über die Künstlerkolonie in Bad Urach, in der so bekannte Schriftsteller wie Theodor Plivier und Erich Mühsam verkehrten.

Das 7. Kapitel ist der Auseinandersetzung mit den Funktionären der kommunistischen Bewegung gewidmet. An einigen Beispielen wird hier das oftmals sehr gespannte Verhältnis zwischen den Anarcho-Syndikalisten und Mitgliedern der KPD nachgezeichnet. So wurde am 27.April 1927 eine Veranstaltung mit Rudolf Rocker in Stuttgart von anwesenden Kommunisten gestört, woraufhin der Referent in seinem Schlusswort darauf hinwies, das diese sich lieber einen „hohen Grad an Wissen aneignen sollten, statt in der Parteipolitik ihr Heil“ zu erblicken. Der Stuttgarter Karl Völker lehnte eine Zusammenarbeit mit den Kommunisten sogar generell ab, da diese „die Parteiinteressen über die Klasseninteressen der Arbeiter“ stellten.

Aus der Forschung heraus konnte der Verfasser auch Spuren der FAUD in Baden feststellen. In einem kleinen Kapitel werden somit auch die FAUD Ortsvereine in Gottmadingen, Konstanz, Rheinau und Singen analysiert.

In seinem Schlußkapitel schließlich wertet Helge Döhring die Ergebnisse seiner Untersuchung aus. Er kommt dabei zu dem Ergebnis das für das „Gedeihen des Syndikalismus immer der Industrialisierungsgrad entscheidend war, unabhängig davon, ob es sich bei jenen Orten um (Groß-)Städte oder Dörfer handelte.“ Und weiter. „Die Chancen lagen immer dort, wo eine Ortschaft noch in den Anfängen der Industrialisierung und damit der organisatorischen Orientierung der Arbeiterschaft stand.“ Damit erklärt er die Marginalisierung der organisierten anarcho-syndikalistischen Arbeiter in Städten wie Stuttgart, Heilbronn oder Göppingen, allesamt Städte mit über langen Zeiträumen hinweg kontinuierlich arbeitenden FAUD-Gruppen. Denn: „Das Ende syndikalistischer Entwicklung war immer dort erreicht, wo die Arbeiterschaft bereits in den Zentralverbänden und politischen Parteien organisiert war.“ Auch handelte es sich bei der FAUD um eine originäre Arbeiterorganisation, wie umfangreich nachgewiesen werden konnte. Somit werden auch die verbreiteten Vorurteile, nach denen es sich bei den Anarcho-Syndikalisten um „kleinbürgerliche Elemente“ handeln würde, zurückgewiesen. Durch das hier zusammengetragene Material ergibt sich auch eine neue Beurteilung der Geschichte der Arbeiterbewegung in Württemberg, speziell für die Lokalgeschichte einiger Städte. Die lokale Geschichtsschreibung einiger dieser Städte wird nicht mehr umhin kommen die Anarcho-Syndikalisten als eigenständigen, aktiven und kontinuierlich arbeitenden Strang der Arbeiterbewegung zu behandeln. Helge Döhring hat mit seinem Werk Pionierarbeit geleistet, eine vergessene Bewegung und ihre Protagonisten aus dem Vergessen gerissen und ihre Geschichte nachgezeichnet. Dabei liest sich das Buch trotz der vielen Informationen hervorragend, man spürt das es mit dem Herzblut verfasst wurde.

Zusätzlichen Gebrauchswert erhält das Buch durch ein angefügtes, knapp zweihundert Personen umfassendes Namens – sowie ein umfangreiches Orts Register, das bestens für eigene Nachforschungen geeignet ist. Ausgewählte Abbildungen runden den hervorragenden Gesamteindruck ab. Angefügt ist weiterhin ein Nachwort von Martin Veith, in welchem dieser unter anderem auf einen Erich-Mühsam Platz in Göppingen hinweist.

Helge Döhring hat hier ein gut lesbares und brauchbares Standartwerk zum Anarcho-Syndikalismus in Württemberg verfasst, das ich uneingeschränkt allen an der Geschichte der revolutionären Arbeiterbewegung interessierten empfehlen kann.
 

Nante Götze, Bremen

Aus Direkte Aktion Nr.
175 - Mai/Juni 2006

 


Sebastian Meyler: Syndikalismus im Ländle

Das Buch zeichnet die Entwicklung des Anarchosyndikalismus in Württemberg bis zur Zerschlagung im "Dritten Reich" nach

Über die Geschichte des Anarchosyndikalismus ist wenig bekannt. Es gibt nur ein paar gute Bücher zur Entstehung und Arbeit der Anarchosyndikalisten. Über ihre regionale Tätigkeit ist noch weniger bekannt. Dem wird mit dem Buch “Syndikalismus im 'Ländle'” von Helge Döhring Abhilfe geleistet.

Dieses Buch versucht, die Entwicklung des Anarchosyndikalismus in Württemberg seit den Jahren 1918 und 1919 bis zur Zerschlagung im "Dritten Reich" darzustellen. Obwohl Württemberg nicht zu den stärksten Gebieten der Anarchosyndikalisten zählte, entfaltete die anarchosyndikalistische Freie Arbeiter Union Deutschlands (FAUD) an vielen Orten eine rege Tätigkeit. Diese beschränkte sich nicht nur auf gewerkschaftliche Arbeit, sondern umfasste auch eine Menge kultureller, politischer und gesellschaftlicher Aktivitäten. Der Grund dafür, dass die FAUD sich nicht nur auf die gewerkschaftliche Arbeit beschränkte, war ihre Ablehnung der bürgerlichen Trennung von Politik (Partei) und Ökonomie (Gewerkschaft).

Ein Beispiel für die kulturelle Arbeit der FAUD ist der Verlag “Gilde freiheitlicher Bücherfreunde”, der viele Schriften bekannter Anarchisten und Anarchosyndikalisten wie Rudolf Rocker verlegte. Innerhalb der FAUD gab es verschiedene Ansätze, gesellschaftliche Veränderung erreichen zu wollen. Es gab zum Beispiel in den 1920ern eine Siedlungsbewegung, die versuchte, in anarchistischen Siedlungen ein Leben jenseits kapitalistischer Moral und gesellschaftlicher Zwänge zu leben - ein befreites Leben nach anarchistischen Idealen. Die Siedlungsbewegung von damals ist mit einigen Kommunen der heutigen Zeit vergleichbar.

Auf all diese Ansätze wird in diesem Buch eingegangen. Außerdem wird die Geschichte vieler FAUD-Ortsvereine beschrieben. Wer sich für die Geschichte einzelner Orte interessiert, wird hier also fündig. Wer zu einzelnen Menschen forschen will, für den ist das Personen-Register der FAUD am Ende des Buches sehr nützlich.

Insgesamt kann "Syndikalismus im 'Ländle'" empfohlen werden. Es liefert einen wichtigen Beitrag zur linken Geschichtsschreibung, die gerade jenseits von universitären Hörsälen wichtig ist. Denn das Wissen über die Kämpfe der Vergangenheit bietet uns eine inspirierende Quelle, und wir können aus den Fehlern vergangener Bewegungen lernen.

Rezensent: Sebastian Meyler - Besprechung auf http://www.stattweb.de

 


sl: „Sozialismus von unten“ im Württemberg der Weimarer Zeit


(...) Ein Fazit: Der historische Kontext, die Ideen und die Menschen, die hinter diesen Bewegungen standen, sind heute fast ganz aus dem allgemeinen Bewusstsein verschwunden. Um aber die geistigen und politischen Kämpfe zu verstehen, in denen z. B. die Häftlinge des KZ Kuhberg – mehrheitlich Kommunisten und Sozialdemokraten – standen, und die sie zum Zweck der faschistischen „Umerziehung” in dieses Lager brachten, leistet diese Arbeit einen wichtigen Beitrag. Überdies waren alle ehemaligen oder noch aktiven „Anarcho-Syndikalisten” nach dem März 1933 von „Schutzhaft” in den neuen KZs bedroht. Innerhalb der gut 400 mit Namen bekannten Kuhberg-Häftlinge dürften das zumindest Max Winkler (aus Berlin, Namensgleichheit?), Emil Gerlach (Heilbronner Sozialdemokrat) und Walter Reede aus Stuttgart gewesen sein. Im DZOK-Archiv ist ein von Reede verfasster Lebenslauf erhalten, dem zu entnehmen ist, dass er zwar Ostern 1934 aus dem Ulmer KZ entlassen, im Februar 1935 aber erneut verhaftet und – nach den KZ-Stationen Börgermoor, Welzheim, Dachau, Mauthausen – erst am 6. Mai 1945 befreit wurde. Wer weiß mehr zur Geschichte der „Anarcho-Syndikalisten”? (sl)

 

Besprechung im Mitteilungsblatt, Heft 45/Juni 2006 des Dokumentationszentrums „Oberer Kuhberg Ulm e.V. – KZ- Gedenkstätte“, www.dzokulm.telebus.de

 

 

Ulrich Klemm: Schwäbischer Anarchismus

Als Teil der Arbeiterbewegung ist der Anarchismus in Deutschland nach wie vor ein marginales Forschungsgebiet. Im Gegensatz zum angelsächsischen Raum halten sich die deutschsprachigen Geistes- und Sozialwissenschaften bei diesem historischen, politikwissenschaftlichen und staatsphilosophischen Thema eher zurück und verfügen nach 1945 nur über eine begrenzte Forschungstradition, die darüber hinaus lediglich eine eingeschränkte internationale Anschlussfähigkeit erlebt. Zu den wenigen wegweisenden und herausragenden deutschen Anarchismusforschern, die sich ab Mitte der 1960er- Jahre mit diesem Thema (erneut) befassten, zählen z. B. Ulrich Linse, Peter Lösche, Hans G. Helms, Günter Bartsch, Hans M. Bock oder Erwin Oberländer. Zu diesen „Klassikern“ kam ab Ende der 1970er-Jahre eine jüngere Generation von Wissenschaftlern hinzu, die daran anschloss bzw. neue und differenzierte Aspekte bearbeitete. Zu nennen sind die Arbeiten von Angela Vogel über den Syndikalismus (1977), Wolfgang Haug über Erich Mühsam (1979), Gert Holzapfel über den „Neo-Anarchismus“ (1984), Holger Jenrich zur Rezeption des Nachkriegsanarchismus (1986) oder Ulrich Klan und Dieter Nelles mit einer regionalgeschichtlichen Arbeit über den rheinischen Anarcho-Syndikalismus (1986). Diese Auflistung ließe sich mit weiteren veröffentlichten und unveröffentlichten Examensarbeiten bzw. Dissertationen bis heute fortsetzen und weist die Richtung der Anarchismusforschung: Sie besteht überwiegend aus einem singulären Forschungsinteresse, das über eine nur geringe Kontinuität und längerfristige Systematik verfügt. Zu den „großen“ Themen der Forschung zählte der Anarchismus in Deutschland nie und wird es vermutlich auch nicht werden. Vielleicht ist dafür auch das immer noch weit verbreitete Bild vom Anarchisten als dem „Schwarzen Mann“ mit Vollbart und Bombe in der Manteltasche verantwortlich, das seit Ende des 19. Jahrhunderts in der Öffentlichkeit und den Medien verbreitet wurde und sich bis heute – nicht nur in Deutschland – gehalten hat.
In diesem Forschungskontext erschien nun erstmals eine Studie über den württembergischen Anarchismus 1918 bis 1933, die aus einer Magisterarbeit an der Universität Bremen hervorging. Dieser Zeitraum zählt insgesamt zu einer Blütezeit des deutschen Anarchismus, und insbesondere des Anarcho-Syndikalismus (Freie Arbeiter-Union Deutschlands - FAUD), der in den 1920er-Jahren deutschlandweit bis zu 200.000 Mitglieder hatte. Auf der Grundlage eines freiheitlichen Sozialismus und einer föderalistischen Organisationsstruktur kann die FAUD gleichermaßen als eine Gewerkschafts-, Kultur- und Politikbewegung definiert werden. Es gelingt dieser Arbeit erstmals, die Spuren und die Bedeutung des organisierten Anarchosyndikalismus in und für Württemberg aufzuzeigen. Sie zeigt, dass der Syndikalismus in der Arbeiterbewegung Süddeutschlands durchaus einen Platz neben Kommunisten, Sozialdemokraten und Gewerkschaftlern hatte. Döhring schließt hier eine deutliche Wissenslücke in der Erforschung der Arbeiterbewegung in Baden-Württemberg und bietet eine überzeugende Analyse und Recherche, die in künftigen Betrachtungen
Berücksichtigung finden wird. Obwohl es zwischenzeitlich eine ganze Reihe von Regionalstudien zur anarchistischen Arbeiterbewegung gibt, fehlte bislang eine über den württembergischen Raum. Neben der regionalen und historischen Perspektive ist die Arbeit auch sehr stark durch eine systematische Fragestellung geprägt, die nach den Rahmenbedingungen erfolgreicher bzw. weniger erfolgreicher syndikalistischer Arbeiterbewegung fragt. Ein weiterer Aspekt der Arbeit ist die These vom Arbeitersyndikalismus als Kulturbewegung. Den „Höchststand“ erreichet die FAUD in Württemberg Mitte der 1920er-Jahre mit 15 Ortsvereinen und 1.200 Mitgliedern.
Döhring erfasst die soziologische Zusammensetzung, ihre Arbeitsstrukturen, Berufsgruppen, Wohnbezirke und die Entwicklung der betrieblichen und außerbetrieblichen Organisationen. Seine diesbezüglichen und dokumentierten Recherchen in Archiven sind umfassend und penibel. Die vielfältigen und unterschiedlichen außerbetrieblichen Organisationsstrukturen, wie z. B. die „Gilde freiheitlicher Bücherfreunde“, die „Gemeinschaft proletarischer Freidenker“, die „Syndikalistisch-Anarchistische Jugend Deutschlands“ oder Siedlungs- und Schulprojekte machen deutlich, dass der Arbeitersyndikalismus auch als eine Kulturbewegung bewertet werden kann.

Die Arbeit ist allerdings keine umfassende Ideengeschichte des Arbeitersyndikalismus. Sie ist organisationssoziologisch und sozialgeschichtlich orientiert. Zwei Fragestellungen stehen im Mittelpunkt: (1.) Unter welchen Bedingungen entsteht der organisierte Arbeitersyndikalismus? (2.) Wie kommt es zu der Entwicklung von einer politischen Bewegung zu einer Kulturbewegung?

Entscheidend für die Entwicklung des Syndikalismus scheint der Grad der Industrialisierung und der Organisation der Arbeiterschaft zu sein. Der Arbeitersyndikalismus fand keine Resonanz, wo bereits Partei- und Organisationsstrukturen der SPD oder KPD bestanden. So gab es beispielsweise in Ulm und Stuttgart keine FAUD-Strukturen. Begründet wird dies vom Autor damit, dass in Ulm Industriestrukturen fehlten und in Stuttgart eine starke SPD vorhanden war. In Tuttlingen und Pliezhausen konnten sich dagegen nach 1918 syndikalistische Strukturen entwickeln, da es keine organisierten Arbeiter gab und ein entsprechender Grad an Industrialisierung vorhanden war. Für heute folgert Döring daraus, dass vor allem in Schwellen- und Billiglohnländern der Nährboden für einen Syndikalismus vorhanden sein müsste, da der Organisationsgrad der Arbeiter einerseits relativ gering und andererseits die Industrialisierung bzw. Globalisierung vorangeschritten ist. Hinsichtlich seiner These und Fragestellung zum Arbeitersyndikalismus als Kulturbewegung kann Döring belegen, dass er sich in Württemberg im untersuchten Zeitraum von einer gewerkschaftlichen Interessenorganisation zu einer Kulturorganisation entwickelt hat. Bei einer Gesamtbetrachtung des Arbeitersyndikalismus in Württemberg kann festgehalten werden, dass er in Form der FAUD nicht über den Status einer Ideenorganisation mit gewerkschaftlichem Anspruch hinausgekommen ist. Jedoch: Obgleich die FAUD bis 1933 eine Randerscheinung in der Arbeiterbewegung blieb, zeigt die Studie, dass es in Württemberg eine anarchistische Bewegung nach 1918 gab, die in verschiedenen Städten und vor allem unter Arbeiterinnen und Arbeitern auf eine zaghafte Resonanz stieß. Die Arbeit verdient in diesem Sinne Beachtung als eine organisationssoziologische Regionalstudie zur Arbeiterbewegung in Württemberg und als Beleg für den politischen und kulturellen Charakter des Anarchosyndikalismus in der Weimarer Zeit.

Ulrich Klemm: "Schwäbischer Anarchismus" in: Der Bürger im Staat Nr. 3/4 2008

 

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