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Das Programm der Revolutionären Konföderation der
Anarchisten-Syndikalisten Nestor Machno
1. DIE GEGENWÄRTIGE GESELLSCHAFT
In der gegenwärtigen Gesellschaft erkennen wir zwei Klassen:
- die Bourgeoisie, d.h. die Eigentümer der Produktionsmittel. Sowohl jene, die
einzeln über sie verfügen, als auch jene, die sich zu verschiedenen
Gruppierungen (Aktiengesellschaften, Korporationen etc.) zusammengeschlossen
haben, darunter solche „Überkorporationen“, welche im Umfang ganzer Länder
vereinigt sind, wie es in der UdSSR und einer Reihe anderer Länder der Fall war.
Den nächsten und treuesten Erfüllungsgehilfen des Willens der Bourgeoisie bildet
das staatliche Beamtentum;
- das Proletariat, unter welchem wir alle Personen der Lohnarbeit verstehen, die
keine eigenen Produktionsmittel besitzen, der Kontrolle über sie entledigt sind,
und sich mit gesellschaftlich-nützlicher Arbeit in Betrieben die der Bourgeoisie
gehören beschäftigen.
Unter den gegenwärtigen Bedingungen gehört die Mehrheit der Bauernschaft
faktisch ebenfalls zum Proletariat, da sie meistens nicht auf eigenen
Landstücken und nicht mit eigenen Arbeitsgeräten arbeitet, sondern in großen
Betrieben mit kapitalistischem Charakter, welche sich unter der Bezeichnung
„Kollektivwirtschaft“ tarnen (Aktiengesellschaften, Kolchosen etc.).
Es ist offensichtlich, daß die Grenzen zwischen den unterschiedlichen Klassen
und Schichten nicht beständig (erblich) und klar gezogen sind, wie es unter den
Standes- und Kastengesellschaften der Fall gewesen ist. Allerdings, wenn man
große Menschenmassen betrachtet, so ist die Klassenteilung eine unbestreitbare
Tatsache, welche sich gerade im Hinblick auf die Produktion und auf den Platz
(den herrschenden oder den untergeordneten) äußert, welchen diese oder jene
Klasse in der Ökonomie einnimmt.
Die ökonomische Vormacht der Bourgeoisie, wird durch ihr Monopol auf die
politische Herrschaft ergänzt, welche die Form des Staates angenommen hat. Wir
sind nicht der Meinung, daß der Staat mit der menschlichen Gesellschaft
gleichzusetzen ist; er stellt einen hierarchischen Apparat dar, welcher im
Interesse der Eigentümer gebildet wurde und handelt, welcher dazu berufen ist,
die ihnen nützliche Ordnung zu bewahren und zu beschützen.
Die unausweichlichen Folgen der Klassenteilung, der staatlichen Organisierung
der Gesellschaft und des Aufbaus des gesamten wirtschaftlichen Lebens
ausschließlich im Interesse der Profitgewinnung für Eigentümer, sind:
- Ungleichheit der Menschen in den faktischen Möglichkeiten ihre Bedürfnisse zu
befriedigen (materielle und geistige),
- die überwiegende Mehrheit der Menschen kann keinen Einfluß auf Entscheidungen
nehmen, welche die wichtigsten Bereiche des privaten und gesellschaftlichen
Lebens berühren,
- Unvermeidbarkeit von Kriegen, ökonomischen Krisen, Arbeitslosigkeit usw. usf.,
- in den Ländern der sgn. „Dritten Welt“ und des ehemaligen „sozialistischen
Lagers“ wird dies durch Massenverelendung, den Hunger der Bevölkerungsmehrheit
und die Entstehung totalitärer und faschistischer Regime etc. ergänzt;
- endlich haben die staatliche und kapitalistische Organisierung der
Gesellschaft heute die reale Gefahr entstehen lassen, daß die ganze Menschheit,
daß alles Leben auf der Erde aufgrund einer atomaren Katastrophe oder einer
näher rückenden ökologischen Katastrophe vernichtet werden.
Alle Versuche, die vorgeschlagen bzw. unternommen werden, um die vor der
Gesellschaft stehenden Probleme im Rahmen einer Bewahrung der kapitalistischen
und staatlichen Ordnung zu lösen, können unserer tiefsten Überzeugung nach
keinen Erfolg haben. Keinerlei Versuche des Aufbaus eines „allgemeinen“,
„wahrhaft demokratischen“ Staates, des „Volkskapitalismus“ u.ä. Projekte, haben
je dazu geführt, noch konnten sie dazu führen. Indem man das Eigentum und die
reale Macht in den Händen Weniger aufrecht erhält, indem man die Trennung von
Menschen in Regierende und Regierte aufrecht erhält, kann man die sozialen
Gegensätze lediglich verdecken, aber nicht beseitigen. Bisher fanden alle
Versuche den Lebensstandard der Werktätigen in den entwickelten kapitalistischen
Ländern zu heben, entweder auf Kosten einer erhöhten Ausbeutung der Länder der
„Dritten Welt“ statt (wie dies die USA gemacht haben und machen und die Länder
Westeuropas), oder aufgrund ökonomischer Hilfe weiter entwickelter Länder aus
bestimmten politischen Beweggründen (z.B. Japan).
Aus der Gegensätzlichkeit der Funktion und der Rolle der Bourgeoisie und des
Proletariates in Gesellschaft und Ökonomie ergibt sich unweigerlich eine
Gegensätzlichkeit ihrer Klasseninteressen – und hieraus ergibt sich die
Unvermeidbarkeit des Kampfes zwischen ihnen. In diesem Klassenkampf treten die
Bourgeoisie und die Beamtenschaft in einer einigen Front zum Schutze ihres
Eigentums und ihrer Herrschaft auf – der Quelle ihrer Einkünfte und Privilegien.
Dabei benutzen sie gewaltige Kräfte und Mittel, welche sich unter ihrer
Kontrolle befinden: Finanzen, Massenmedien, das Erziehungs- und Bildungssystem
(genauer gesagt das der Massenverdummung), die benannte bourgeoise Moral, die
Religion etc. bis hin zum Gericht, der Polizei und den Streitkräften. Von Seiten
des Proletariates trägt der Kampf um die eigenen Interessen in der Regel den
Charakter des Kampfes zur Verbesserung der ökonomischen Lage, aber wie bereits
gesagt, zeugt die historische Erfahrung von der Unmöglichkeit der dauerhaften
Aufgabenlösung im Rahmen des kapitalistischen Systems. Daher liegt es also im
Interesse der herrschenden Klasse die bestehende Ordnung zu bewahren, während
die wesentlichen Änderungen in der Lage des Proletariates erst mit seinem Sieg
über die Bourgeoisie, der Vernichtung der Klassenteilung, der kapitalistischen
Ordnung und ihrer Ersetzung durch eine andere – die sozialistische – erreicht
werden können.
2. SOZIALISMUS UND ANARCHISMUS
Also, die reale und einzige Alternative zu der staatlich-kapitalistischen
Ordnung ist die staatslose sozialistische Gesellschaft.
Unter Sozialismus verstehen wir eine Gesellschaft, die auf folgenden Prinzipien
begründet ist:
- der Liquidierung des privaten und des Gruppeneigentums der Bourgeoisie auf
Produktionsmittel und ihre Übergabe an die gesamte Gesellschaft in Person der
Arbeitskollektive und der lokalen territorialen Vereinigungen;
- der Organisierung des Wirtschaftslebens nicht mit dem Ziel der Profitgewinnung
für Einzelpersonen oder Personengruppen, sondern zur möglichst vollkommenen
Befriedigung der Bedürfnisse aller und eines jeden; seine Führung nicht in den
Interessen eines einzelnen Betriebes, einer Korporation oder Branche, sondern in
den Interessen der gesamten Gesellschaft;
- der sozialen Gleichheit, d.h. der Möglichkeit eines freien und gleichen
Zugangs zu allen materiellen und geistigen Werten, die der Gesellschaft zur
Verfügung stehen; die Verteilung der Güter, an denen Mangel herrscht, muß auf
Entscheidung der Kollektive im Interesse der am meisten dieser Güter Bedürftigen
erfolgen;
- der Selbstverwaltung aller wirtschaftlichen und territorialen Einheiten, also
der Abwesenheit einer äußeren Einmischung in ihre inneren Angelegenheiten; alle
endgültigen Entscheidungen werden von jenen Vereinigungen von Menschen
getroffen, die sie berühren;
- der persönlichen Freiheit eines jeden, also der Abwesenheit irgendeiner
Einmischung in sein persönliches Leben, seine Überzeugungen etc.;
- der gegenseitigen Hilfe, der Freundschaft und der Brüderlichkeit, als der
Grundlage zwischenmenschlicher Beziehungen;
Wir halten es nicht für möglich und auch nicht für nötig ein maximal genaues
Bild von dem Funktionieren einer solchen Gesellschaft zu geben. Das Leben, die
Praxis baut sich immer nicht nach genau ausgearbeiteten Projekten auf, - das
freie Volksschaffen wird alles besser machen, als jedes geschriebene Programm.
Aber es ist notwendig eine bestimmte Vorstellung von dem Aufbau einer
sozialistischen Gesellschaft zu geben.
Wir meinen, daß an Stelle des Staates eine wahrhafte Räteordnung der Werktätigen
treten muß, ohne Herrschaft und durch sie verfaßte Gesetze. Wir unterstreichen,
daß eine Räteordnung (=sowjetische Ordnung) nach unseren Vorstellungen keine
Macht irgendeiner Partei darstellt, kein „Parteienparlament“, sondern die
vollkommenste konstruktive Form der staatslosen sozialistischen
Selbstverwaltung, welche ihre praktische Umsetzung in den Erfahrungen der
Machnobewegung (1918-1920) und der Spanischen Revolution (1936-1939) fand.
Die Versammlungen der Einwohner und der Betriebsarbeiter wählen frei, aus ihrem
Umfeld, die Organe der territorialen und wirtschaftlichen Selbstverwaltung – die
Räte, als ausschließlich technische und koordinierende Organe, deren Mitglieder
in ihrer Tätigkeit die Beschlüsse der Versammlungen ihrer Wähler ausführen,
ihnen gegenüber rechenschaftspflichtig sind, jeglicher Privilegien entledigt
sind und zu jedem Zeitpunkt abberufen und ersetzt werden können. Dergestalt wird
das innere Leben jeder territorialen und wirtschaftlichen Einheit ausschließlich
durch ihre Teilnehmer bestimmt.
Die Vertreter der lokalen Räte vereinigen sich in einem ökonomischen Stadtrat
oder – in ländlichen Kreisen – in einem ökonomischen Kreisrat. Im Umfang eines
Gebietes bilden diese Räte eine Föderation; die Vereinigung der Föderationen
bildet auf dem Territorium des ganzen Landes die nationale Konföderation. Die
Aufgaben der Kreis-, Stadt-, Gebiets- und nationalen Vereinigungen der Räte,
bestehen in der Koordinierung des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens
in den notwendigen Fragen – in erster Linie der Planung und der Verwirklichung
der überregionalen Verteilung der Rohstoffe, der Energie, der fertigen
Produktion etc. Die Beschlüsse dieser Vereinigungen werden aufgrund freier
Vereinbarungen der Vertreter erarbeitet, welche die Vereinigung der lokalen
Einheiten darstellen; sie berühren nur Probleme, die allgemein sind.
Die Ökonomie des Sozialismus, welche im Interesse aller Mitglieder der
Gesellschaft geführt wird, und nicht der Eigentümer und nicht einmal der
Kollektive einzelner Betriebe, muß sich von dem chaotischen, systemlosen
Wirtschaftskapitalismus verabschieden, von seinen Bestrebungen des Profites um
jeden Preis, mit seiner unzulässigen Verschwendung von Kräften und Mitteln, u.a.
auch für den Konkurrenzkampf. Die zentralisierte Regulierung der Ökonomie durch
Staatsorgane und transnationale Korporationen wird ebenfalls mit egoistischen
und Gruppeninteressen verwirklicht, ohne daß die Werktätigen selbst daran
teilnehmen. Die anarchistische sozialistische Gesellschaft muß folglich das
Wirtschaftsleben auf prinzipiell anderen Grundlagen organisieren.
Die Kongresse der lokalen und der regionalen Räte und Unionen der Werktätigen
klären ihre Produktionsfähigkeiten und Bedürfnisse, wählen Delegierte für die
nationalen Branchen- und branchenübergreifenden Kongresse; dieses Netz der
lokalen und allgemeinen registrierenden, statistischen, verteilenden und anderen
technischen Organe verwirklicht die Abstimmung der sozial-ökonomischen
Betätigung in den Interessen des gesamten Volkes und unter seiner unmittelbaren
Kontrolle. Prinzipiell wichtig ist, daß die wirtschaftliche Regulierung
dezentral durchgeführt wird, von unten nach oben, unter maximaler Beteiligung
aller lokalen Kräfte.
Für jene, die sich mit persönlicher schaffender Tätigkeit - unter Ausschluß der
Benutzung von Lohnarbeit - zu beschäftigen wünschen, muß eine Möglichkeit
gegeben sein, ihre Arbeit mit den sozialistischen Betrieben und Räten zu
koordinieren, - um so einen freien Zugang zur Teilnahme an der
gesellschaftlichen Verteilung von Produktion und Dienstleistungen zu
gewährleisten. Allerdings muß sich die Entwicklung der Gesellschaft nicht in
Richtung einer Festigung der Wirtschaften von Privateigentümern vollziehen (was
schließlich zur Restaurierung des Kapitalismus führen könnte), sondern in
Richtung des Wachstums und der Festigung der gesellschaftlichen Produktion in
allen Sphären der Wirtschaft. Daher dürfen die Räte eine Benutzung von
Lohnarbeit, ein Anmieten von Produktionsmitteln neben den eigenen durch
Unternehmer und die Entstehung parasitischer Formen des Kapitals (Wucher,
Vermittlung, Privathandel etc.) nicht zulassen. Die ökonomische Kontrolle der
Gesellschaft über die individuellen Wirtschaften und die Ersetzung der
Marktwirtschaft durch die gesellschaftliche Planung in den Bereichen der
Produktion und der Verteilung, werden ausreichende Maßnahmen sein, um einen
Schutz vor der möglichen Entstehung von Ungleichheit, Ausbeutung und Herrschaft
zu bieten.
Die kulturelle, wissenschaftliche und erzieherische Tätigkeit wird durch alle
interessierten Personen und ihre Vereinigungen bestimmt. Jede territoriale
Einheit kann selbst Formen der Sozialversorgung für Alte und Kranke bestimmen,
die Bedingungen der Schultätigkeit, der Kindergärten etc. Jede Person oder
Personengruppe kann sich in der von gesellschaftlich –nützlicher Arbeit freien
Zeit mit aller Art Kunst, Bücher- und Zeitschriftenherausgabe,
wissenschaftlicher und anderer Arbeit beschäftigen, sich mit Gleichgesinnten in
den Fällen vereinigend, wenn eine gemeinsame Betätigung erwünscht oder notwendig
ist. Die von der Herrschaft des Geldes und der Staatsvorgaben befreiten,
wahrhaft dem Volk gehörigen Wissenschaft und Kunst beginnen sich sprunghaft zu
entwickeln, indem sie gleichzeitig den geistigen und kulturellen Horizont der
Menschen erhöhen.
Der Schutz der freien Gesellschaft vor äußeren und inneren Feinden, darunter der
Kriminalität, muß Sache der ganzen Gesellschaft werden. Statt der
Professionellen, die vom Staat besoldet werden, und daher jeden, auch den
unmenschlichsten Befehl der Behörden bereit sind auszuführen; die unvermeidlich
der Korruption und der Eingliederung in die Verbrechenswelt unterliegen, - muß
die Gesellschaft sich durch den Weg der allgemeinen Volksbewaffnung schützen,
der Bildung einer freiwilligen wahrhaften Volksmiliz in den Betrieben und
Wohngebieten.
Die Kriminalität wird in erster Linie durch das Privateigentum geboren. Die
Existenz einer Staatsmacht, einer vom Volk getrennten korrumpierten
Beamtenschaft bildet die notwendigen Bedingungen zur Entstehung einer
organisierten Kriminalität. Unter den Bedingungen des staatslosen Sozialismus,
wird der Umfang der Kriminalität wesentlich geringer sein als heutzutage. Die
Formen des Volksgerichts und der Antwort auf das Verbrechen können in jedem
konkreten Fall unterschiedlich sein, ohne Rücksicht auf geschriebene abstrakte
Artikel der Strafgesetzbücher.
Die staatslose sozialistische Gesellschaft (ANARCHIE) bedeutet überhaupt nicht
den „Beginn der Reiches Gottes auf Erden“. In der anarchistischen Gesellschaft
wird es weiterhin einige Probleme geben, die der gegenwärtigen Zeit eigen sind,
weiterhin ist auch das Auftreten neuer gesellschaftlicher Probleme möglich. So
ist das Leben und seine Gesetze. Allerdings werden die Bedingungen zur Lösung
dieser Probleme, die Lebensbedingungen der Menschen - in jedem Falle
unvergleichlich günstiger sein als die gegenwärtigen.
3. DIE SOZIALE REVOLUTION
Der Übergang zum staatslosen Sozialismus entspricht nicht den Interessen des
Staates mit seinem bürokratischen Apparat und der Bourgeoisie. Daher kann ein
derartiger Übergang nicht ohne die Überwindung des Widerstandes von ihrer Seite
erfolgen, er kann nicht mit friedlichen Mitteln vollzogen werden. Der Vorgang
der Zerstörung der existierenden Ordnung, die Unterdrückung des Widerstandes der
ausbeutenden Klassen und die Bildung einer sozialistischen Gesellschaft nennen
wir die SOZIALE REVOLUTION. Die Aufgabe der Sozialisten besteht deswegen darin,
daß diese Revolution – eine unvermeidlich gewaltsame – imstande ist, den
Widerstand des Feindes möglichst effektiv und mit geringen Opfern zu brechen.
Ohne sorgfältige Vorbereitung und Organisierung, ohne Analyse der bevorstehenden
Taten ist dies unerfüllbar.
Die Herrschaft und die Ausbeutung, der Staat und der Kapitalismus sind
gegenseitig miteinander verbunden und können nicht voneinander getrennt
existieren. Davon ausgehend ist klar, daß die soziale Revolution gleichzeitig
gegen beide gerichtet sein muß. Daraus folgt der prinzipielle Unterschied
zwischen der sozialen und der politischen Revolution: letztere ist auf eine
Ablösung des politischen Regimes gerichtet, auf die Veränderung der FORM der
Ausbeutung des Proletariats, auf die Erscheinung einer neuen Klasse der
Ausbeuter, während die erste einen antistaatlichen Charakter besitzt und daher
zur Vernichtung der Möglichkeit von Ausbeutung gleichzeitig die Herrschaft
bekämpfen muß.
Wir sind zutiefst davon überzeugt, daß die soziale Revolution darum keine Form
der Bildung eines „zeitlich begrenzten“ „Übergangs“staates annehmen kann,
darunter auch nicht des sgn. „Staates der Diktatur des Proletariats“ der
Marxisten. Die Machtergreifung durch eine politische Partei oder ihren Block,
die Nationalisierung, d.h. Verstaatlichung der Ökonomie – führt unvermeidlich zu
einer neuen Aufteilung der Gesellschaft in Herrschende und Beherrschte. Ihre
verschiedenen Gesellschaftsfunktionen diktieren auch verschiedene Interessen.
Die neue Herrschaft, welche durch eine Bürokratie dargestellt wird, die im Namen
des „Arbeiterstaates“ das gesamte sozial-ökonomische Leben kontrolliert, strebt
in erster Linie die eigene Festigung an – und nicht ein „Absterben“. Sie trennt
sich immer mehr vom Volk und tritt mit ihm in den Kampf. Indem sie über den
Staat die Ökonomie beherrscht, wird die Bürokratie zu einer neuen herrschenden
Klasse, welche sich von der alten durch eine größere Geschlossenheit und
Allmacht unterscheidet. Die „Übergangsperiode“ der Marxisten wird sich
unvermeidlich über eine historisch langwierige Periode erstrecken. Die gestrigen
„Revolutionäre“ werden zu neuen Herren und Gendarmen, die Ungleichheit und die
Ausbeutung nehmen andere Formen an, aber verschwinden nicht. Sehr schnell wird
der „Übergangs“staat – der nicht beabsichtigt „abzusterben“ – alle prinzipiellen
Unterschiede mit der kapitalistischen Welt verlieren, und zur Verwirklichung des
sozialistischen Ideals wird eine neue Revolution notwendig werden. Genau diese
Voraussage gab der wissenschaftliche Anarchismus des 19. / Anfang des 20.
Jahrhunderts im Ergebnis einer Analyse der Folgen einer möglichen
Machtergreifung der Marxisten. Dergestalt zeugen sowohl die Folgerungen der
Theorie, als auch die historische Erfahrung davon, daß der Erhalt des Staates,
d.h. der politischen Unterdrückung, unweigerlich zur schnellen Wiederherstellung
der ökonomischen Unterdrückung führt.
Da wir die Machtergreifung als Mittel der Revolution ablehnen, sind wir
überzeugt, daß die soziale Revolution nur in Form einer organisierten
Massenbesetzung (Enteignung) der gesamten Produktion und ihrer Verteilung durch
die Organisationen der heutigen Lohnarbeiter vonstatten gehen kann, wobei alle
Staatsorgane liquidiert werden und umgehend durch Organe der Selbstverwaltung
ersetzt werden.
Für den Erfolg einer solchen Massenaktion der Werktätigen ist ernsthafteste
Vorbereitungsarbeit in der Organisierung von Unionen der Arbeiter, der
Angestellten, der Bauern u.a. Vereinigungen nötig, deren Grundlagen von Anfang
an sozialistische Prinzipien bilden müssen – Selbstverwaltung, Gleichheit der
Teilnehmer, Solidarität etc. Diese Unionen müssen danach streben ihre
revolutionäre Klassentätigkeit auf branchenübergreifender und auf überregionaler
Ebene zu koordinieren, mit der Perspektive eine nationale Konföderation der
Arbeit zu bilden, die in engem Kontakt mit der internationalen
revolutionär-sozialistischen Bewegung der Werktätigen handelt. Nachdem man sich
gefestigt, die eigenen Organisationen entwickelt und sich von der Fähigkeit
überzeugt hat, eine reale Arbeiterkontrolle über die Tätigkeit der
Betriebsverwaltung auszuüben (d.h. nachdem man sich vorbereitet hat, die
Wirtschaft eigenständig zu führen, ohne der Verwaltung zu bedürfen) beginnen die
Arbeiterunionen – nachdem sie eine umfangreiche Koordinierung von Aktionen
geschaffen haben – den besitzergreifenden Generalstreik, verwirklichen die
Massenenteignung der Betriebe, lösen alle Organe der Staatsmacht auf und brechen
den Widerstand der ehemaligen „Herren des Lebens“ und ihrer Anhänger.
Von dem oben Dargelegten ausgehend, sehen wir unsere Aufgabe nicht darin, eine
zentralisierte hierarchische Organisation in der Art einer Partei zu bilden,
nicht im Einschluß in eigenen Gruppen zur „rein anarchistischen Tätigkeit“ –
sondern in der maximalen Teilnahme und Hilfe in der SELBSTorganisierung des
Proletariats, in der Revolutionierung der bestehenden Arbeiterorganisationen, in
der breiten Ideenpropaganda unserer Prinzipien und der unmittelbaren Teilnahme
in dem sich entwickelnden Klassenkampf. Kraft der historischen Traditionen
nehmen wir daher den Namen an REVOLUTIONÄRE ANARCHISTEN-SYNDIKALISTEN.
4. ALLTÄGLICHE TÄTIGKEIT
In unserer alltäglichen Tätigkeit sehen wir folgende Ausrichtungen der Arbeit:
Teilnahme am Klassenkampf:
- der Schutz und die Erweiterung der ökonomischen Eroberungen der Arbeiterklasse
(Erhöhung der Löhne, Verkürzung des Arbeitstages, Verbesserung der
Arbeitsbedingungen etc.).
- der Kampf zur Begrenzung der Rechte von Unternehmern und der Verwaltung – mit
Hilfe der Gewerkschaften und der Fabrikkomitees, bis zur Errichtung einer
Arbeiterkontrolle über die Tätigkeit der Verwaltung.
- Kampf mit dem Streikbrechertum und der Unterdrückung von Streiks.
- Kampf für die Freiheit gewerkschaftlicher Tätigkeit und die Nichteinmischung
des Staates und der Verwaltung in die Sachen der Arbeiterorganisationen, für ein
unbegrenztes Streikrecht.
- Unterstützung von Kommunen, sozialistischen Verbraucher- und
Produzentenkooperativen, selbstverwalteten Betrieben etc.
- Aktive Arbeit zur Organisierung von revolutionären Produktions- und anderen
Arbeiterunionen.
Teilnahme am sozialen Kampf:
- Kampf für die Meinungs-, Presse-, Versammlungsfreiheit, Unverletzbarkeit der
Person etc.
- Kampf zur Schwächung der Kraft des Staates und seines Betätigungsfeldes.
- Kampf gegen den Nationalismus in allen seinen Erscheinungen, gegen den
Faschismus, Militarismus, Klerikalismus und andere antihumane Bewegungen und
Erscheinungen.
- Unterstützung der ökologischen Bewegung.
Methoden unserer Tätigkeit in diesen Richtungen:
- mündliche, schriftliche u.a. Propaganda und Agitation; Herausgabe von
Zeitungen, Zeitschriften, Flugblättern, Bulletins etc.
- Direkte Aktionen: Kundgebungen, Demonstrationen, persönliche und
Massenverweigerung der Steuerzahlung und die Weigerung andere Forderungen der
Staatsmacht zu erfüllen, passiver Widerstand, Boykott, Sabotage, verschiedene
Arten von Streiks, bis hin zum Generalstreik.
Unter günstigen Umständen – der Übergang des Generalstreiks in die höchste Form
des Klassenkampfes – die soziale Revolution.
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