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Karl Roche
Der achtzehnte März
Die bürgerliche Revolution im März 1848 hatte für das Bürgertum den Erfolg, dass
es neben den Feudalgewaltigen zur wirtschaftlichen Macht gelangte. Sehr
verständnisvoll scherte sich die Bourgeoisie wenig um Wahlrecht und sonstigem
politischen Plunder. Haben doch die Krämer und Fabrikherren sich siebenzig Jahre
hindurch in Preussen die politische Vorherrschaft der Junker gefallen lassen.
Und das gerne. Denn so lange Dunghaufengraf und Schlotbaron zusammenhielten,
konnte die Sonne des Sozialismus nicht emporsteigen. Der brutale von Pritzelwitz
und der in Demagogie besser beschlagene Schmidt oder Schulze ergänzten sich
prachtvoll. Man stand gemeinsam zum Militär, man ging gemeinsam zur Kirche, man
hätschelte die Bürokratie. So liess sich die Arbeiterklasse ganz gut regieren.
Und die deutsche Arbeiterklasse in ihrer grossen Mehrheit hat bis zu den
Novembertagen 1918 immer zur Bourgeoisie gehalten, hat immer bürgerlich gedacht
und vom Sozialismus nur geträumt. Sie hat sich mit der Bourgeoisie verwachsen
gefühlt und versucht, mit ihr zusammen eine dem proletarischen Klassenkampfe
totschädliche Demokratie zu bilden. Der Schrei nach dem allgemeinen, gleichen
und direkten Wahlrecht entstieg dem bürgerlichen Denken und nicht dem
sozialistischen. Der parlamentarische Kampf um die politische Macht war die
perverse Äusserung einer Klasse, die nicht zum vollen Ausleben ihrer Kräfte
gelangen konnte. Die angewendeten und angedrohten Kampfmittel waren bürgerlich:
Verhandeln oder Waffengewalt. Die Freiligratdichtung belebt auch heute noch die
in der zweiten Revolution kämpfende Arbeiterklasse. Leider müssen heute noch die
Waffen ihre tödliche Sprache reden, weil auf proletarischer Seite der
Parlamentsblödsinn über die Generalstreiksvernunft siebenzig Jahre hindurch
herrschte.
Den ersten praktischen Schritt zur Gründung der deutschen Arbeiterbewegung tat
Lassalle. Sein scharfer Geist erfasste den Wert der Lohnarbeiterschaft als Masse
für ihre Befreiung. Aber denken tat Lassalle nicht als proletarischer, sondern
als bürgerlicher Revolutionär. Anders konnte es ja auch nicht sein, denn er war
kein Prolet. Bei all seiner studierten Wissenschaftlichkeit blieb ihm verborgen,
dass der Staat niemals die Mittel zur Befreiung der Arbeiterklasse aus der
Lohnknechtschaft bieten kann, denn der Staat ist ja ausschließlich die
konzentrierte Gewalt, mit der die Bourgeoisie die Lohnarbeit verewigen möchte.
Bei einer guten Profitmacherei der Bourgeoisie gestattet sie dem Staat ein
bescheidenes Mass Sozialpolitik, die obendrein die Lohnarbeiterschaft selbst
bezahlen muss.
Der bürgerliche Revolutionär Lassalle konnte natürlich nur bürgerliche
Revolutionswaffen empfehlen, knüpfte er doch seine Agitation unmittelbar an die
bürgerliche Revolution von 1848 an. Er verlangte das freie Wahlrecht für die
Arbeiter und drohte mit den "Arbeiterbattaillonen". Dass der Streik das
revolutionäre Kampfmittel der Lohnarbeiterschaft ist, womit sie die
Herrschermächte des Staates besiegen, den Staat beseitigen muss, das konnte der
antiproletarische Lassalleschädel nicht fassen. Er leitete die bürgerliche
Revolution auf die proletarische über, schuf eine Art dritten Geschlechts
zwischen bürgerlichem und proletarischem Klassenkampf, gab dem Wiegenkinde
gleich das Gift seiner späteren Unfähigkeit mit auf dem Lebensweg.
Gegen Lassalle war Marx ein Titan; seine revolutionäre Gewalt lag in seiner
wissenschaftlichen Analyse der Ökonomie. Hier schuf er einen sprudelnden
Jungbrunnen, aus dem die Arbeiterbewegung jeder Richtung schöpfen kann. Aber
auch ihn hatte die bürgerliche Revolution emporgetragen, auch er konnte letzten
Endes aus seiner bourgeoisen Haut nicht heraus. Sein kritischer Geist zermalmte
Staat, Demokratie und Parlamentarismus und – sein Verhängnis bleib, dass er sich
die organisierte Lohnarbeiterschaft nicht ohne politische Führung vorstellen
konnte. In Marx und Lassalle hat die bourgeoise Macht ihre bissigsten und
eindringlichsten Kritiker und zugleich – ungewollt – ihre einzigen Retter ein
halbes Jahrundert hindurch gehabt. Denn beide Arbeiterlehrer lehnten die direkte
ökonomische Aktion ab. Bis zu ihrem Lebensende standen sie unter der Vision des
alten Schäfers am Birkenbaum.
Wir dürfen auch von den beiden Grossen der deutschen Arbeiterbewegung nicht
Unmögliches verlangen. Nicht nur, dass sie entartete Kinder der bürgerlichen
Revolution waren, als Bürgerliche konnten sie unmöglich den proletarischen Geist
begreifen, der den Syndikalismus notwendig hervorbringen muss. Auch zu Marx'
Zeiten hatte sich selbst in der englischen Arbeiterschaft das Klassenbewusstsein
noch nicht herausgebildet, das der Syndikalismus erfordert. Aber es war jenseits
des Kanals immer stark entwickelt. Die TradsUnions mit ihrer Ablehnung der
politischen Führung bewiesen es.
Der deutschen Arbeiterklasse erging es mit ihrem Klassenbewusstsein so ähnlich
wie mit der sozialen Revolution: von dem einen träumte sie nur und das andere
besass sie nur in der Einbildung. Erst die zum höchsten gesteigerte Macht des
Kapitals konnte in der deutschen Lohnarbeiterschaft, die an sich wenig
revolutionären Sinn hat, das Klassenbewußtsein schaffen, welches die scharfe
Scheidung zwischen bürgerlicher Herrschaft und proletarischer ökonomischer Macht
klar erkennt.
Und schließlich ist jede Wissenschaft Erfahrung. Und wir mussten aus dem
Misslingen des sozialdemokratischen Parlamentierens die Konsequenzen ziehen.
Der achtzehnte März 1848 ist uns ein Gedenktag jener Helden, die ihr Leben dem
menschlichen Freiheitsideal opferten. Der heutige Kampf der Lohnarbeiterschaft
um den Sozialismus hat aber ein höheres Ziel, ein mehr hehres Ideal. Die Namen
Liebknecht, Luxemburg, Eisner werden in der Geschichte noch glänzen, wenn den
Märztagen des Jahres 1848 keine Erwähnung mehr geschehen wird.
"Es soll sich regen, schaffend handeln,
Erst sich gestalten, dann verwandeln;
Nur scheinbar steht' s Momente still.
Das Ewige regt sich fort in allen;
Denn alles muss in Nichts zerfallen,
Wenn es in Sein beharren will !"
Karl Roche
aus: "Der Syndikalist", 1. Jg. (1919), Nr. 13.
(Anm. d. Tippers: Was nur wenige wissen: Karl Liebknecht stimmte im Reichstag
zunächst für die Kriegskredite, Rosa Luxemburg fiel durch ihre im Jahre 1906
erschienene antisyndikalistische Schrift "Massenstreik, Partei und
Gewerkschaften" auf – beide gründeten mit der KPD eine der ärgsten Widersacherin
der undogmatischen Arbeiterbewegung in Deutschland und Kurt Eisner ließ Erich
Mühsam während der Revolution in München verhaften und einsperren.)
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