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Augustin Souchy

Rudolf Rocker achtzig Jahre alt – achtzig Jahre Freiheitskämpfer

Wenn jemand siebzig Jahre alt wird, dann sagt man, er habe das biblische Alter erreicht. Unserm Freunde und Lehrer Rudolf Rocker hat die Natur zehn Jahre mehr geschenkt. Der Jubilar, der am 25. März 80 Jahre alt wird, hat dieses Geschenk gut anzuwenden gewusst. Er hat sich nicht auf seinen Lorbeeren ausgeruht, die er, notabene, gut verdient hat. Im letzten Dezennium hat er mehr geleistet als vorher in zehn jüngeren Lebensjahren. Das war ein Glück für ihn, worüber auch wir uns freuen können. Abgesehen von seinen zahlreichen, in der internationalen, freiheitlichen Presse veröffentlichten Beiträgen, hat er die freiheitliche Literatur mit mehreren Büchern bereichert: mit einem kleinen aber gediegenen Werk über den Einfluß der absolutistischen Ideen im Sozialismus, einem Buche über die Pioniere der amerikanischen Freiheit, mit einer Broschüre über Deutschland, der wertvollen Biographie über den Herodot des Anarchismus, Max Nettlau, und vor allem mit drei stattlichen Bänden seiner Erinnerungen. Auch die Veröffentlichung seines Hauptwerkes „Die Entscheidung des Abendlandes“ in deutscher Sprache fällt in dieses letzte Jahrzehnt. Die meisten andern hier genannten Arbeiten sind in englisch, spanisch und jüdisch erschienen.

Diese Werke allein würden genügen, um Rudolf Rocker einen Ehrenplatz in der freiheitlichen Bewegung zu sichern. Sie sind indessen nur die Krönung – hoffentlich nicht der Abschluß – seiner unermüdlichen Tätigkeit als Kämpfer und Forscher im Dienste der Freiheit und Menschlichkeit.

Rudolf Rocker ist heute der Senior der internationalen freiheitlichen Bewegung. Nur E. Armand, der talentvolle Vertreter des individualistischen Anarchismus in Frankreich, ist mit seinen 82 Jahren noch älter. Auch Armand ist noch rüstig. Er gibt immer noch ganz allein die literarisch hochstehende Zeitschrift „L’Unique“ heraus, hält Vorträge und schreibt immer noch Liebesgedichte. So etwas kommt heute vor. Bertrand Russel, der unseren freiheitlichen Ideen sehr nahe steht, hat mit 82 Jahren noch einmal geheiratet! Gigi Damiani, Chefredakteur der „Umanita Nova“ in Rom, gehört auch zu den alten Kämpfern für Freiheit und Persönlichkeitswürde. Albert Jensen in Stockholm, der vor fünfzig Jahren damit angefangen hat, Stirners „Einzigen und sein Eigentum“ ins Schwedische zu übersetzen und später die erste Kraft des schwedischen Syndikalismus wurde, hat auch schon die Siebzig überschritten. Sonst lebt niemand mehr von jenen Vorkämpfern der Freiheit, die Anfang des Jahrhunderts innerhalb der Arbeiterbewegung die Fahne der Emanzipation der Menschheit entrollten. Man sollte bei dieser Aufzählung Eugen Relgis nicht vergessen, der fast ein halbes Jahrhundert hindurch vom Balkan aus den Ruf nach Humanitarismus in die Welt schrie, dann aber von der triumphierenden Bestie vertrieben wurde und heute in Montevideo seine segensreiche Tätigkeit für die Verteidigung der Menschenwürde fortsetzt.

Ich habe das Glück gehabt, unsern achtzigjährigen Jubilar im Oktober vorigen Jahres in seinem Heim in Crompond, im Staate New York, zu besuchen, Drei volle Tage habe ich bei ihm verbracht. Crompond ist eine Kolonie, die vor mehr als dreißig Jahren von Menschen errichtet wurde, die die Freiheit suchten und in Freiheit miteinander leben wollten. Der Ort liegt am Lake Mohigan, dem ehemaligen Wohnsitz der Mohikaner, deren letzte Sprösslinge vor Zeiten zu ihren Vätern gegangen sind. Wir machten lange Spaziergänge zum See und in die weitere Umgebung. Es waren schöne Herbsttage. Die Natur entfaltete mit letzter Kraft ihre späten Reize und Rudolf übertrieb nicht, als er mich darauf aufmerksam machte, dass der Spätsommer mit seiner herrlichen Farbenpracht wohl nirgends in der Welt so schön ist wie an den waldbewachsenen Ufern des Hudson.

Dieses Panorama war just der geeignete Rahmen für die Innenbilder, die wir im Gespräche vor unsern geistigen Augen erstehen ließen. Wir sprachen vor allem über unsere gemeinsamen Ideen und deren Träger, die Menschen und Kameraden. Die körperliche Rüstigkeit, die geistige Lebendigkeit und das ausgezeichnete Gedächtnis des Alten setzten mich in Erstaunen. Er war kurz vorher an einem Gallenleiden erkrankt gewesen und noch nicht ganz genesen. Dennoch machten wir täglich stundenlange Spaziergänge, und manchmal kostete es mich, den um zwanzig Jahre Jüngeren, Anstrengungen, dem Achtzigjährigen beim Aufstieg auf den hügeligen Waldwegen zu folgen. Nur die Sehkraft seiner Augen hat nachgelassen und sein Gehör ist schwächer geworden. Sonst aber ist Rudolf Rocker der gleiche, der er vor einem viertel Jahrhundert gewesen ist.

Damit soll nicht gesagt werden, daß seine Ansichten heute noch die gleichen sind, die er und viele andere Sozialrevolutionäre um die Jahrhundertwende von der Verwirklichung einer freien Gesellschaftsordnung gehabt haben. Das „semper idem“ gilt für Rudolf Rocker nur in Bezug auf seine Dynamik im Denken und Streben. Er hat aus dem Studium der Geschichte gelernt, daß es ein eitles Unternehmen wäre, der Entwicklung einen starren Weg und der Gesellschaftsordnung schematische Foren vorschreiben zu wollen. Können in dem dauernden Fluß der Veränderungen unsere Ideen über die Zukunft, unsere Auffassungen über den Gang der Ereignisse und unsere Ansichten über die Formen einer neuen, besseren Gesellschaftsordnung immer die gleichen bleiben?

Rudolf Rocker ist bekannt als der bedeutendste Theoretiker des Anarchosyndikalismus. Er hat das anarchosyndikalistische Ideengebäude zu großer Vollkommenheit entwickelt und die Gesamtheit der freiheitlichen Ideen schöpferisch gestaltet und einheitlich dargestellt. Darin liegt sein großes Verdienst.

In der Zeit nach dem ersten Weltkriege war in mehreren Ländern Europas eine gewisse Möglichkeit für die Durchführung dieser Ideen vorhanden. Vor allem galt es damals dem revolutionären Elan, den die Russische Bolschewisten durch ihre Parteidiktatur erstickten, eine neue und freie Richtung zu weisen. Noch viele Jahre später wurde im spanischen Bürgerkriege der Beweis erbracht, daß diese Ideen praktisch verwirklicht werden können und durch sie die soziale Gerechtigkeit zum Siege gelangen kann.

Nach dem zweiten Weltkrieg aber lagen die Dinge anders. Unter den heutigen, ganz anders gelagerten Umständen und Verhältnissen Methoden zu propagieren und Vorschläge zu empfehlen, die dreißig oder gar fünfzig Jahre vorher aktuell gewesen sind, wäre sture Dogmatik und weltfremde Abstraktion. Ein Dogmatiker aber ist Rudolf Rocker nicht. In seiner 1947 veröffentlichten Broschüre zur „Betrachtung der Lage in Deutschland“ hat er gezeigt,, daß er den Geist der neuen Zeit begriffen und trotz fünfzehnjähriger Abwesenheit von der alten Heimat für die Forderungen des Tages Verständnis hatte. Für seinen forschenden Geist gilt nicht das semper, sondern das nunca idem. Er glaubt nicht daran, daß die Wehen einer veränderlichen Zeit mit unveränderlichen Rezepten geheilt werden können. Er glaubt auch nicht daran, daß den sozialen Problemen mit fertigen Patentlösungen beizukommen ist. Es war für mich eine große Genugtuung feststellen zu können, daß nach Rudolf Rockers Ansicht die Veränderungen der wirtschaftlichen und sozialpolitischen Verhältnisse auch eine geistige Umstellung erfordern. Das ist ganz meine eigene Auffassung und diese Übereinstimmung im Kriterium gab uns die Gewissheit geistiger Verbundenheit im Sinne der Nietzscheworte: „Nur wer sich wandelt bleibt mit uns verwandt“.

Man diskutiert gegenwärtig in der freiheitlichen Bewegung mit großer Leidenschaft und leider nicht immer mit der erforderlichen Objektivität über Prinzipien und Taktik und stellt erneut die Frage, wie man zur Überwindung des Kapitalismus und zum Aufbau des Sozialismus am besten und schnellsten gelangen könne. Einen besonders hervorragenden Platz in diesen Diskussionen nimmt die Stellungnahme zu dem Ost- West- Problem ein.

Vor fünfzig Jahren gab es nur privatkapitalistische Staaten, die alle imperialistischen Tendenzen aufwiesen und sich nur in der politischen Graduierung von einander unterschieden. Das hat sich seitdem geändert. Die Gesellschaftsstruktur hat sich in der ganzen Welt gewandelt. In Russland und den sowjetischen Satellitenstaaten ist der Privatkapitalismus durch den Staatskapitalismus verdrängt worden. Die alten, herrschenden Klassen sind liquidiert worden und neue Herrenschichten sind an die Macht gekommen. Zur Zeit vollzieht sich in diesen Ländern ein sozialer Polarisationsprozeß, in dessen Verlauf sich neue, herrschende Klassen herauskristallisieren. Auch in den privatkapitalistischen Ländern gab es Strukturveränderungen und unverkennbare, wirtschaftliche und soziale Umschichtungen. Das kapitalistische Ausbeutungssystem besteht zwar immer noch, ist aber in den meisten Ländern durch Reformen gemildert worden. In den kommunistischen Ländern aber werden die Arbeiter in der allerraffiniertesten Weise ausgebeutet und genießen nicht einmal die bürgerlichen Freiheiten, deren sich die Arbeiter in den privatkapitalistischen Ländern trotz alledem immer noch erfreuen. Selbst das Habeas-Corpus-Gesetz, das seit dem Siege der Großen Französischen Revolution in allen zivilisierten Ländern hochgehalten wird, ist in den kommunistischen Staaten vor die Hunde gegangen.

Diese veränderte Situation erfordert eine Neuorientierung. Alle freiheitsliebenden Menschen geben zu, daß die Völker unter dem östlichen Totalitätsregime versklavt sind und die politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse in diesen Ländern mit dem Westen überhaupt nicht verglichen werden können. Dennoch vertreten einige Genossen aus Anhänglichkeit zu ihren traditionellen Auffassungen den unlogischen Standpunkt, daß im Falle eines Konfliktes zwischen Ost und West beide Seiten gleich verwerflich sind und die freiheitliche Bewegung die westlichen Demokratien als ebenso gefährlichen Feind der Freiheit und des Friedens betrachten müsse wie die östlichen Diktaturstaaten. Ich habe aus meinen Gesprächen mit Rudolf Rocker entnommen, daß er selbstverständlich den Krieg als Mittel zur Austragung der Streitigkeiten zwischen den Nationen verwirft, dennoch aber weit davon entfernt ist, den diktatorischen Osten dem liberalen Westen gleichzusetzen und daß er konsequentermaßen diesen Standpunkt auch bei einem offenen Konflikt aufrecht erhalten würde.

Unser Geburtstagsjubilar ist heute einer der wenigen Überlebenden, der durch das Bismarcksche Sozialistengesetz aus Deutschland vertrieben worden ist. Trotz seines hohen Alters ist er ein Junger im Geiste geblieben. Einige jüngere Genossen in England und Amerika haben es Rocker übel genommen, daß er während des zweiten Weltkrieges im nationalsozialistischen Deutschland das größte Übel gesehen habe, dessen Sieg er unter allen Umständen verhindert wissen wollte. Rudolf Rockers Standpunkt war der richtige. Die Menschheit wäre in ihrem Befreiungskampf um Jahrzehnte zurückgeworfen worden, wenn Hitler gesiegt hätte. Natürlich wird auch heute noch die Freiheit allerwärts eingeschränkt, doch darüber braucht man sich nicht zu wundern. Der Weg zur Freiheit führt im Zickzack aufwärts, und wer ihn beschreitet muß sich auch auf vorübergehende Abstiege gefaßt machen. Hegelianer und Marxisten sprechen von einem objektiven Verlauf der geschichtlichen Entwicklung, bei dem sich alles mit Notwendigkeit vollzieht. Rudolf Rocker hat diesen geschichtlichen Mystizismus jahrzehntelang bekämpft, und wir können heute mit Zufriedenheit feststellen, daß nur noch verbohrte Dogmatiker und deren blinde Anhänger sich zu dieser hegelianisch-marxistischen Spekulationsphilosophie bekennen.

Rudolf Rocker war einer der ersten, der darauf hingewiesen hat, daß der Menschheit vom östlichen Totalitarismus eine größere Gefahr droht als vom westlichen Kapitalismus. Er hat eingesehen, daß es in der aus den Fugen geratenen Welt kein einseitiges Rechts und klares Links mehr in der Politik gibt. Wenn die amerikanischen Kapitalisten die Beseitigung von Geheimpakten fordern, die von den revolutionären Bolschewisten verteidigt werden, dann sind offenbar die Revolutionäre von gestern zu den Reaktionären von heute geworden. Ich habe bei meinen Gesprächen mit Rudolf Rocker festgestellt, daß er sich bei den entscheidenden Fragen, die die Menschheit heute in zwei große Heereslager teilen, nicht in einen Elfenbeinturm zurückzieht. Er hat die Ausbeutung unter dem System des Privatkapitalismus sechzig Jahre lang bekämpft und ist weit davon entfernt, sie heute gutzuheißen. Er sieht mit Bedauern, daß auch im Westen und besondern in Amerika die Freiheit eingekreist wird und die militärischen Belange mehr und mehr in den Vordergrund treten. Doch er ist alt genug, um sich vor seichten Urteilen zu hüten. Ihm sind die Ursachen dieser Zustände bekannt und er weiß, daß allem zum Trotz Freiheit und Menschenwürde im Westen immer noch ihre Zufluchtstätte haben, während die Gralshüter der sozialen Revolution im Osten alle Revolutionsprinzipien und sozialistischen Postulate mit Füßen treten. Deshalb hat sich Rudolf Rocker entschieden.

Das lange Leben Rockers war reich an unermüdlichen Kämpfen und großen Erlebnissen. Er kannte Konzentrationslager und Schutzhaft. Er war als Goy einer der Gründer der jüdischen Arbeiterbewegung. Er hat in der deutschen Arbeiterbewegung während der Weimarer Republik aktiven Anteil genommen. Er hat durch seine Schriften auf die freiheitliche Bewegung vieler Länder großen Einfluß ausgeübt. Daneben hat er als Geschichtsforscher der Arbeiterbewegung und als Sozialphilosoph Großes geleistet. Wie Rudolf Rocker heute denkt, mögen seine eigenen Worte zeigen, mit denen er den dritten Band seiner in spanisch und jüdisch aber noch nicht in deutsch erschienenen Erinnerungen abschließt:

„Jeder Generation stellen sich besondere Aufgaben, die sie um so besser bewältigen kann, je mehr sie die inneren Bindungen erfaßt hat, die zwischen dem bestehen, was einmal war und dem was ist, denn gerade aus diesem Verständnis zieht sie die Lehren, die sie für ihren eigenen Kampf benötigt. Je weniger sie sich von abstrakten Auffassungen leiten läßt, um so besser wird sie begreifen, daß es keine universalen Lösungen für die verschieden gearteten Probleme des geistigen und sozialen Lebens gibt und nie geben kann, und um so erfolgreicher wird sie in ihren Bestrebungen sein und um so größer sind ihre Perspektiven. Jeder Dogmatismus wird zu einer gefährlichen Zwangsjacke für die natürliche Entwicklung, da er die Zukunft mit den Hypotheken der Vergangenheit belastet. Niemand ist gegen Irrtümer gefeit, doch wenn man den Irrtum erkannt hat, sollte man wenigstens den Weg frei machen, der aus den Irrtümern hinausführt. Das ist die Grundlage für jeden freien Gedanken. Proudhon sagte einmal, dass ein wirklich freier Mensch nie ganz sicher ist, daß das, was er erstrebt auch wirklich das Rechte sei. Ich glaube, das ist das Beste was jemals über den Begriff der Freiheit im allgemeinen gesagt worden ist. Und gerade heute, da der Einfluß totalitärer Ideen überall emporwuchert, sind Männer dieser Denkweise mehr denn je erforderlich“.

Einer der Männer dieser freien Denkweise ist Rudolf Rocker selbst. Mehr braucht in diesem Zusammenhang über ihn nicht gesagt zu werden. Außer einem: dem Wunsche, daß er noch recht viele Jahre bei gleicher geistiger Frische und körperlicher Gesundheit unter uns weilen möge!“

Aus: Die freie Gesellschaft“, Nr. 39/1953

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